Mea culpa
nicht kenne; ich will sie nicht kennen. Ihr Blick, als sie mir das Ende erzählt hat, hat mir Angst gemacht: Petter ist gestohlen, den Rest möchte ich nicht hören. Meine eigene Geschichte ist Belastung genug, und ich kämpfe darum, einen Weg aus ihr hinauszufinden. Für weitere Geschichten habe ich keinen Platz.
»Pierrot ist eigentlich reich«, fängt Asha an, sie hört meine Gedanken nicht. »Pierrot ist der Sohn eines großen Mannes. Eines richtig großen Mannes. Pierrots Vater besaß zwei Brauereien und eine Zuckerplantage, und außerdem saß er im Parlament. Er war aus Südafrika hergekommen, sein Vater war schwarz, die Mutter weiß, und immer lag ein Nebel über seiner Kindheit; es kam nicht einmal so richtig heraus, bei wem er aufgewachsen war. Als er herkam, war er siebzehn und bettelarm. Er brauchte nur zehn Jahre, um sich ein Vermögen zu erwirtschaften, das rasch wuchs und sich verdoppelte, und er heiratete eine strahlende Schönheit. Sie hieß Grace.«
Ich lese einen Pullover aus dem Sand auf und lege ihn über meine nackten Waden. Sie scheint ein Märchen zu erzählen, leicht und fließend, als könne sie es auswendig, und sie erzählt es ohne besondere Gefühle, fast leiert sie es herunter, es war einmal …
»Soll ich eine Decke für dich holen?«, frage ich. Sie trägt nur ein hauchdünnes Kleid, es ist so verschlissen, dass es fast durchsichtig scheint.
»Grace hatte die schmalste Taille, die hier jemals gesehen worden war, und die größten Augen. Sie waren blau; ihr Vater war Franzose, ein wilder, trunksüchtiger, großer, charmanter Mann aus reichem Hause. Er konnte Grace noch schnell mit seiner indischen Haushälterin zeugen, ehe er sich 1962 zu Tode fuhr.
Als Pierrots Vater und Grace heirateten, ließ er einen Palast bauen. Kostbare Holzarten, viele Zimmer, Marmor in der Küche. Die Küche war einfach umwerfend. Das weiß ich, denn ich habe für Pierrots Eltern gearbeitet.«
Vorsichtig stehe ich auf und versuche, ihren Blick einzufangen, aber sie ist wie in Trance, sie spricht zum Meer, zum Wind, zu Gott oder zu sich selber, denn sie registriert nicht einmal, dass ich die Decke holen gehe. Vielleicht habe ich etwas versäumt, denn ich kann ihr Gemurmel noch oben im Bungalow hören, und ich beeile mich nach Kräften. Ich breite vorsichtig die Decke über sie, und endlich schaut sie auf, sie lächelt mir zu, bedankt sich und lässt sich richtig in die Decke hüllen.
»Pierrot war ihr einziges Kind. Ich sollte mich um ihn kümmern. Grace war … krank, müssen wir wohl sagen. Die Nerven. Sie hatte ein nervöses Leiden, das nie ganz geklärt werden konnte, vielleicht war sie zu gut für diese Welt. Nach der Geburt kam sie nie wieder ganz auf die Beine, meistens lag sie nur noch im Bett.«
Jetzt verstummt sie, und ich weiß nicht, wie ich die Pause füllen soll. Etwas an diesem Bericht mindert meine Skepsis; ich möchte eigentlich noch immer nichts wissen, aber ich fühle mich doch von der Geschichte angezogen; es geht um Petter, und widerstrebend will ich mehr hören.
»Obwohl sie krank war, liebte sie ihren Jungen. Es war ein Anblick, diese beiden, die Frau im Bett, das Baby in ihren Armen … ein heiliger Anblick. Aber sie kümmerte sich nicht um ihn. Stillte ihn nicht. Sie hatte ihn nur einige Stunden am Tag bei sich, und Pierrot schien zu begreifen, dass seine Mutter krank war, er war brav und lieb und wach, wenn er bei ihr war, jeden Tag, in ihrem Bett, immer in diesem Bett.«
Asha hebt ihre Tasse zum Mund, doch die ist leer.
»Weißt du«, sagt sie und sieht mich plötzlich lächelnd an. »Ich glaube wirklich, ich möchte doch ein Glas Wein. Ich habe seit vielen, vielen Jahren keinen mehr getrunken. Das hier wäre eine gute Gelegenheit.«
Ich hole die Flasche, sie ist kalt, ich habe mich daran gewöhnt, Rotwein aus dem Kühlschrank zu trinken, so wie das hier üblich ist, ich reiche ihr das Glas. Sie nippt, befeuchtet ihre Zunge ein wenig, und nickt leicht und anerkennend.
»Du kannst dir ja denken«, sagt sie dann, »dass Pierrot außer seinen Eltern keine Verwandten hatte. Jedenfalls keine legitimen Verwandten. Graces Mutter, die Großmutter des Jungen, hatte nach Graces Geburt eine Stange Geld erhalten und war zu ihren Verwandten nach Indien zurückgekehrt.«
Wieder wird das Glas gehoben, und jetzt trinkt sie wirklich, einen richtigen Schluck.
»Sie war meine Schwester. Wir haben nie wieder von ihr gehört.«
Großtante. Asha ist Petters Großtante. Der Kindesdiebstahl
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