Meade Glenn
Männer lagen auf den Straßen, zusammengerollt auf Parkbänken oder in zugigen Hauseingängen. Er hätte eine solch augenfällige Armut in der mächtigsten Hauptstadt der Welt niemals für möglich gehalten.
Kursk dachte an die Ermittlungen, die vor ihm lagen. Er wusste kaum etwas über Washington, und ihm fehlte die Kenntnis der Einheimischen. Bei der Aufklärung des Falles war er voll und ganz auf seine amerikanischen Kollegen angewiesen.
Sie mussten ihm jede einzelne Information liefern. Die immense Bedrohung Washingtons stellte die Polizei und den Geheimdienst vor eine große Herausforderung. In einer so großen, multikulturellen Stadt konnten sich Terroristen mühelos verstecken. Und den Amerikanern blieben nur noch knapp sechs Tage. Kursk hielt es praktisch für unmöglich, die al-Qaida-Zelle zu finden, wenn ihnen kein glücklicher Zufall zu Hilfe kam.
Als der Fahrer in die Pennsylvania Avenue einbog, konnte Kursk einen Blick auf den Capitol Hill werfen, auf dem majestätisch das Kapitol thronte. Der Anblick faszinierte ihn so sehr, dass er das Fenster herunterkurbelte. In den letzten neun Stunden hatte er immer wieder über seine missliche Lage nachgedacht. Unzählige Fragen schossen ihm durch den Kopf.
Was würde passieren, wenn Verbatin Recht hatte und Gorev zu den Terroristen in Washington gehörte? Und wenn er ihn tatsächlich aufspüren würde? Was dann? Kursk hegte die leise Hoffnung, Nikolai Gorev gegebenenfalls zum Aufgeben überreden zu können. Vielleicht war diese Hoffnung vergebens.
Auf jeden Fall hatte er nicht vor, als staatlicher Henker aufzutreten, was auch immer passieren würde. Die Bande zwischen ihm und Nikolai waren zu stark. Er könnte ihn nicht töten.
»Wir sind so gut wie da«, sagte der Fahrer freundlich, als der Ford von der 7. in die 10. Straße einbog. »Jetzt haben wir es geschafft.«
Sekunden später erreichten sie die festungsartige FBI-Zentrale. Kursk hatte Fotos vom J. Edgar Hoover Building gesehen. Er erinnerte sich, dass amerikanische Architekten den Begriff des »modernen Brutalismus« benutzt hatten, um das Gebäude zu charakterisieren. Es sah eigentlich weniger brutal als abschreckend aus. Sie bogen links ab, und Kursk spürte ein Zwicken im Magen, als der Wagen im großen Schlund der FBI-Tiefgarage verschwand.
Washington, D.C.
12. November, 12.45 Uhr
Benny Visto aß mit Ricky und Frankie am nördlichen Ende der 14. Straße zu Mittag. Sie ließen sich ihre Krebse in Hummersauce gut schmecken, als die beiden Typen das Restaurant betraten. Visto erkannte die FBI-Agenten sofort. Es roch nach Ärger. Die beiden Männer kamen auf sie zu. Der Größere sagte: »Benny. Lange nicht gesehen. Wie gehen die Geschäfte?«
»Was für Geschäfte?«
Der Agent lächelte. »Sag deinen Jungs, sie sollen einen Spaziergang machen. Wir müssen reden.«
Benny tupfte sich mit der Papierserviette die Hummersauce von den Lippen. »Für diese Krebse habe ich zwanzig Dollar hingeblättert. Ich würde gerne in Ruhe essen.«
»Es dauert nicht lange.«
Visto seufzte. Es brachte nichts, sich mit den FBI-Typen anzulegen. Sie konnten einem das Leben schwer machen. Er nickte Frankie und Ricky zu. »Macht euch aus dem Staub.«
Ricky und Frankie standen auf und gingen zur Bar. Die beiden Männer setzten sich an den Tisch.
»Was, zum Teufel, wollt ihr denn?«
»Wir suchen ein paar Leute, Benny.«
»Ihr sucht immer irgendwelche Leute.«
»Araber aus dem Nahen Osten. Sie sind auf der Suche nach Ausweisen und Waffen. Vielleicht versuchen sie sogar, Verstecke und Lagerhäuser in oder in der Nähe der Stadt zu finden.«
»Ich weiß von keinen Arabern, die sich nach so was umsehen.«
»Vielleicht vögeln sie auch deine Mädchen.«
Visto grinste. »Was denn für Mädchen?«
»Dann eben die Mädchen eines anderen. Kapiert, Benny?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Araber sich auf dem Straßenstrich bedienen. Die haben Geld und ziehen Edelnutten vor.«
»Und wenn du dich mal für uns umhören würdest? Vielleicht hat jemand was gehört. Dann würden wir gerne mal mit ihm sprechen. Könnte ziemlich viel Geld bei rausspringen.«
»Muss ja enorm wichtig sein, wenn ihr so mit dem Geld rumwerft.«
»Ist es. Es ist sehr wichtig, Benny.«
Visto unterdrückte den Drang zu lächeln. Es war erst Mittag, und schon eröffnete sich ihm eine weitere günstige Gelegenheit.
»Wenn einer etwas haben will, muss er eine Gegenleistung erbringen. Eine Hand wäscht die andere.«
Der Agent seufzte.
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