Meade Glenn
Karla. Ich kann mir vorstellen, wie sehr du deinen Sohn liebst. Er ist alles, was du hast. Es muss sehr schwer für dich sein.«
Karla rieb sich über die Augen. »Das kannst du dir nicht vorstellen.«
»Nein, kann ich das nicht? Du darfst ihn viermal im Jahr besuchen, und jeder Besuch dauert zehn Minuten. Du darfst deinen Sohn nicht berühren und ihn nicht umarmen. Ihr müsst euch in Gesellschaft zweier israelischer Wachen, die genau zuhören, durch ein Metallgitter unterhalten. Du wirst durchsucht, bevor du das Gefängnis betrittst und bevor du es wieder verlässt. Jedes Wort, das ihr sprecht, wird mitgehört und aufgenommen…«
Die Kaffeemaschine blubberte. Gorev ließ ihren Arm los, ging zum Herd, goss ihnen beiden eine Tasse Kaffee ein und schüttete Zucker hinein. Ehe er an den Tisch zurückkehrte, stellte er sich ans Fenster und schaute aufs Meer. Dunkle Gewitterwolken zogen auf. Karla fragte in ruhigem Ton:
»Woher weißt du das alles?«
»Von den Freunden, die mir gesagt haben, wo ich dich finde.«
»Und warum bist du hergekommen? Warum wolltest du mich nach all den Jahren wieder sehen?«
Nikolai Gorev stellte seine Tasse auf den Tisch und sagte in ernstem Ton: »Die Bruderschaft braucht deine Hilfe.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht. Warum sollten sie ausgerechnet dich zu mir schicken?«
»Das ist eine lange Geschichte. Es würde zu weit führen, dir das jetzt alles zu erklären. Ein paar arabische Bekannte von mir haben mich engagiert.«
»Um was zu tun?«
Gorev lächelte. »Etwas äußerst Gefährliches, aber unglaublich Lohnendes.«
Karla schüttelte den Kopf. »Damit habe ich nichts mehr zu tun, Nikolai. Schon seit Jahren nicht mehr. Ich bin keine PLO-Anhängerin mehr, die mit einer Kalaschnikow über der Schulter für die Freiheit kämpft, die Barrikaden in Chatila besetzt oder Rekruten ausbildet, damit sie gegen die Israelis kämpfen. Die Bruderschaft weiß, dass dieses Leben hinter mir liegt. Ich möchte ein ruhiges, friedliches Leben führen. Dafür habe ich hart gearbeitet.«
»Aber du bist noch immer Muslimin.«
»Die seit Jahren nicht mehr in die Moschee geht. Bei mir stand nie die Religion im Vordergrund, und das weißt du.«
Gorev lächelte. »Okay, du bist eine moderne Frau. Dennoch hat die arabische Sache dir und deinem Mann immer sehr am Herzen gelegen. Du kannst deine Vergangenheit nicht ungeschehen machen, Karla. Diese Sache liegt dir im Blut.«
»Du verschwendest deine Zeit, Nikolai. Um was es sich auch immer handeln mag, die Antwort ist nein.« Sie ballte die rechte Hand zur Faust und schlug sie gegen ihr Herz. »Natürlich spüre ich Wut in meinem Herzen über das, was dem arabischen Volk widerfahren ist. Aber das ist nicht mehr der einzige Grund, warum ich Wut empfinde. Ich kann mich auf gar keinen Fall wieder da hineinziehen lassen. Nicht für dich und nicht für die Bruderschaft. Für niemanden. Für mich sind der Krieg, das Töten und der Kampf vorbei.»
»Selbst wenn es eine Belohnung gäbe?«
»Geld interessiert mich nicht.«
»Geld meine ich nicht. Eine andere Belohnung.«
»Und welche?«
»Erinnerst du dich an Moskau? Du und deine palästinensischen Freunde glaubtet, ihr würdet euch unterscheiden, und jeder glaubte, etwas Besonderes zu sein. Und das wart ihr auch. Jeder, der an der Patrice- Lumumba-Universität, der berühmtesten Universität der Welt, einen Abschluss erworben hat, muss es zwangsläufig glauben. Ihr wurdet herangezogen, um den Terrorismus und die Anarchie zu verbreiten. Denk an die Ideale, die ihr alle hattet, und wie ihr davon geträumt habt, die Welt zu verändern. Und wenn ich dir sage, wie du das erreichen könntest?«
»Wie soll ich sie ändern? Und für wen?«
»Für das arabische Volk. Es soll über sein Schicksal selbst bestimmen können. Es ein für alle Mal vom Joch des Westens befreien und die Welt unwiderruflich verändern. Und für dich gäbe es noch eine Belohnung, die genauso wichtig ist.«
»Welche?«
»Die Freiheit deines Sohnes.«
Karla Sharif sah ihren Besucher verwirrt an. »Sage mir, wie.«
Gorev erzählte es ihr.
Die dunklen Wolken waren vom Meer herübergezogen und brachten heftigen Regen mit, der gegen die Scheiben prasselte.
Als Gorev verstummte, herrschte einen Moment Schweigen.
Karla Sharif schaute ihn noch immer ungläubig an und schüttelte den Kopf. »Was du da vorschlägst, ist vollkommen verrückt. So etwas kann die Welt an den Rand des Abgrunds bringen.«
»Ob es nun verrückt ist
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