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Meade Glenn

Meade Glenn

Titel: Meade Glenn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Achse des Bosen
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stieß sie einen leisen Schrei aus. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Seine Hände waren an lockere Stahlketten gebunden, und er humpelte mit seinen Krücken zu dem Stuhl. Er war sechzehn Jahre alt. Ein dünner, hübscher Junge mit dunklem, zerzaustem Haar und einem dunklen Teint.
    Im letzten Jahr wollte er sich einen Bart wachsen lassen, doch der Versuch scheiterte kläglich. Karla wusste, dass die Anstrengungen ihres Sohnes, männlich zu wirken, vergebens waren. Als ihr Sohn sie anlächelte, sah er aus wie ein Kind.
    »Hallo, Mama.«
    »Wie geht es dir, mein Schatz?«
    »Gut, Mama. Und dir?«
    »Ich vermisse dich.«
    Josef nickte und warf den Wärtern hinter ihr einen Blick zu.
    Sein Lächeln erlosch. Karla hatte sich daran gewöhnt, dass ihr Sohn nie zugab, sie zu vermissen. Er verachtete die israelischen Wärter und glaubte vermutlich, sie würden dieses Eingeständnis als Schwäche ansehen. Sie hätte sich gefreut, wenn er es einmal ihr zuliebe zugegeben hätte, aber das war wohl zu viel verlangt.
    »Erzähl mir, was du gemacht hast, Mama.«
    Diese Frage stellte ihr Josef immer, wenn sie ihn besuchte. Es war verboten, über Vorgänge im Gefängnis oder seine Gefangenschaft zu sprechen, und daher konnte er kaum etwas anderes fragen. Das waren die Vorschriften, auf deren Einhaltung streng geachtet wurde. Die Wärter sprachen fließend Arabisch. Alle Gespräche mit ihrem Sohn wurden aufgezeichnet und nach dem Besuch von Sachverständigen auf jede Betonung und Auffälligkeit hin analysiert, um sicherzustellen, dass die Worte keine codierte Geheimbotschaft enthielten. Wenn sie sich nicht an die Vorschriften hielt, würde man ihr die Besuchserlaubnis entziehen. Daher hielten sie sich beide daran und fanden sich mit oberflächlichen Gesprächen ab.
    Karla lebte nur für diesen flüchtigen Augenblick, den sie in Gesellschaft ihres Sohnes verbringen durfte. Es war immer ein traumatisches Erlebnis. Das Verbot, ihn in die Arme zu schließen und ihr eigen Fleisch und Blut an ihre Brust zu drücken, brach ihr jedes Mal fast das Herz. Sie bemühte sich, diese Qual vor ihm zu verbergen und sprach über alltägliche, unverfängliche Dinge: über ihre Arbeit; die Blumen, die sie seinem Vater aufs Grab gelegt hatte; das Unkraut, das im Garten zu Hause wucherte; ein kleines Problem mit dem Wagen, das Josef sicher hätte beheben können.
    Wichtige, intime Dinge blieben ungesagt. Über ihre Sehnsüchte und ihre Erinnerungen sprach sie nie. Oft musste sie, wenn sie in sein kindliches Gesicht sah, an die Zeit denken, da er noch ein Baby war, das sie stillte, das später seine ersten vagen Schritte machte und die ersten Zähne bekam. Mehr als alles auf der Welt wünschte sie sich, er wäre wieder frei. Der Gedanke, dass ihr über alles geliebtes Kind wie ein Tier gefangen gehalten wurde, war unerträglich. Es war qualvoll, all das nicht aussprechen zu können, was ihr auf der Seele lag.
    Josefs vorgetäuschte Tapferkeit und die Gefängnisvorschriften verboten es. »Isst du genug, Josef? Kannst du schlafen?«
    »Ja, Mama.«
    »Was machen deine Wunden? Hast du Schmerzen?«
    »Nein, es geht mir gut, Mama. Ich habe keine Schmerzen.«
    Vermutlich war es eine Lüge. Die Kugeln hatten Josefs rechten Arm getroffen und seinen rechten Oberschenkelknochen und das rechte Knie vollkommen zertrümmert. Die Armwunde war verheilt, und es war nur noch eine tiefe Narbe zurückgeblieben.
    Leider konnte er trotz drei Operationen, die israelische Chirurgen durchgeführt hatten, noch immer nicht ohne Krücken laufen. Zumindest lebte ihr Sohn noch. »Brauchst du etwas?
    Etwas zum Anziehen? Etwas zu essen?«
    »Nein, nichts.«
    Karla entging der trotzige Unterton nicht. Das Gefängnis hatte seinen rebellischen Geist nicht gebrochen. Seine Antworten auf derartige Fragen waren immer gleich. Josef hätte niemals in Gegenwart des Feindes zugegeben, etwas zu brauchen.
    Einer der Wärter klopfte ihr auf den Arm.
    »Bitte, noch eine Minute, ja?«, bettelte Karla.
    »Tut mir Leid. Die Zeit ist um. So sind die Vorschriften.«
    Der israelische Wärter war kein herzloser Mensch, kein Ungeheuer. Karla sah eine Spur Mitleid in seinem Blick. Er musste jedoch seinen Job machen, und in diesem Augenblick hasste sie ihn fast. Zum Abschied drückten Karla und Josef ihre Handflächen auf die Scheibe. Der Wärter ergriff ihren Arm.
    »Bitte, kommen Sie mit.«
    Karla stand auf und zog ihren Stuhl zurück. Die Abdrücke ihrer Hände waren noch nicht ganz verblasst. Sie warf ihrem

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