Meade Glenn
nicht…»
Gorev legte zärtlich einen Finger auf ihre Lippen. »Entscheide dich nicht jetzt. Schlafe eine Nacht darüber. Denk über alles nach. Vergiss aber nicht, dass alles, was ich dir gesagt habe, nur für deine Ohren bestimmt ist. Ich übernachte heute in Sur und komme im Laufe des Vormittags zurück. Dann sagst du mir, wie du dich entschieden hast.«
An demselben Tag hatte Karla Sharif eine lange Fahrt vor sich.
Sie fuhr am frühen Nachmittag achtzig Kilometer bis über die Grenze nach Israel zu einem Hochsicherheitsgefängnis außerhalb von Tel Aviv.
Die Grenze zwischen dem Libanon und Israel war Niemandsland, eine gefährliche Zone, die sie immer, wenn sie ihren Sohn besuchte, überwinden musste. Auf der einen Seite von fanatischen, bewaffneten Islamisten patrouilliert und von wachsamen israelischen Truppen auf der anderen, gab es dazwischen eine UN-Pufferzone. Es war für die Friedenstruppen, die oft dem tödlichen Beschuss von beiden Seiten ausgesetzt waren, eine gefährliche Mission. Am Hisbollah-Checkpoint auf der libanesischen Seite wurde sie nach ihrem Anliegen gefragt, und ihre Papiere wurden genauestens überprüft. Nachdem sie erfahren hatten, warum Karla nach Israel fahren wollte, waren die Posten immer sehr mitfühlend und sogar ehrerbietig.
»Gehen Sie, emraa. Möge Allah Ihren Sohn beschützen. Er ist ein Märtyrer.«
Sobald sie die Sicherheit des UN-Gebietes hinter sich gelassen hatte, sah die Sache anders aus. Eine staubige Straße, die auf beiden Seiten von dicken Stacheldrahtzäunen, Minenfeldern und Kampfhubschraubern, die über ihrem Kopf kreisten, geschützt wurde, führte nach Israel. Auf den ersten fünfzehn Kilometern auf jüdischem Gebiet wurden sie und ihr Wagen an Dutzenden von Checkpoints gründlich durchsucht und ihre Papiere peinlich genau überprüft. Jeder Besuch war ein Spießrutenlaufen, denn die nervösen jungen Soldaten und strenggläubigen Siedler brachten ihr Misstrauen und Verachtung entgegen.
Während der ganzen Fahrt war sie in Gedanken versunken.
Sie dachte nicht nur an ihren Sohn, den sie nach drei Monaten endlich wiedersehen würde, sondern auch an Nikolai Gorevs Besuch. Es hatte ihr vollkommen die Sprache verschlagen, als er nach all den Jahren plötzlich leibhaftig vor ihr stand. Sie hatte den Schock noch nicht ganz überwunden. Damals war sie mit dreißig anderen palästinensischen und arabischen Studenten in Moskau angekommen, um an der Patrice-Lumumba-Universität zu studieren, wo sie ihn kennen gelernt hatte. Sie erinnerte sich an die wunderschöne Zeit in Moskau und ihre leidenschaftliche Liebe zu Nikolai Gorev. Sie erinnerte sich an ein Leben, das schon lange hinter ihr lag, und das Geheimnis, das sie mit ins Grab nehmen würde.
Die Erinnerungen verwirrten sie fast ebenso wie ihre Bestürzung über den Plan, den Nikolai skizziert hatte, und seine Bitte um Hilfe. Es war alles viel zu kompliziert, und sie versuchte, die verwirrenden Gedanken zu verdrängen. Auf diesen Tag hatte sie sich seit drei langen Monaten gefreut. Es war fast zwei Uhr, als sie das Gefängnis, das auf einer Anhöhe lag, erreichte. Der riesige, düstere Sicherheitskomplex aus Beton, der im Schütze dicker Stacheldrahtzäune und hoher Wachtürme stand, schüchterte sie ein. Sie parkte ihren Wagen auf einem dreckigen Platz vor dem Gefängnis und stieg den Berg bis zur ersten Schranke hinauf, wo man sie nach ihrem Anliegen fragte und ihre Papiere kontrollierte. Ihr Name wurde auf der Besucherliste abgehakt, ehe ihr befohlen wurde, durch einen Metalldetektor zu gehen, der sie auf Waffen überprüfte.
Nachdem sie durch die stählernen Gefängnistore geschritten war, wurde sie in einen Raum geführt und musste sich splitternackt ausziehen. Zwei uniformierte israelische Wärterinnen, die Latexhandschuhe trugen, untersuchten jede Ritze ihres Körpers. Erst nach dieser Prozedur wurde sie von zwei Wärtern durch einen unterirdischen Gang in den Besucherraum geführt.
Es war ein kleiner, kahler Raum mit weißen Wänden. Ein öder, steriler Ort, der durch eine Wand mit einem kleinen Fenster in der Mitte aus schusssicherem Glas unterteilt war. Die Unterhaltung fand über Mikrofone statt, die auf beiden Seiten der Trennwand standen.
Die beiden Wärter nahmen ihre Positionen hinter Karla ein, während sie sich gegenüber vom Fenster auf den einzigen Holzstuhl setzte und auf ihren geliebten Josef wartete.
Als sich die Stahltür auf der anderen Seite öffnete und Josef hereingeführt wurde,
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