Meade Glenn
und knapp zwanzig Kilometer von der israelischen Grenze entfernt liegt die Stadt Sur, die im Altertum Tyros hieß und einst eine der bedeutendsten Hafenstädte des Mittelmeers war.
Die ältesten geschichtlichen Aufzeichnungen belegen, dass die wohlhabende Siedlung machtgierige Eroberer anzog: die Phönizier und Pharaonen, die Römer und die Heere von Alexander dem Großen und von Konstantin, die alle den Farbstoff- und Glashandel, für den die Handelsstadt berühmt war, an sich reißen wollten. Tyros wurde schließlich ein belebter Schmelztiegel, in dem Muslime und Drusen, Christen und Maroniten in einer blühenden Stadt zusammenlebten. Im Laufe der Jahrhunderte häuften die Händler durch den Handel mit Ägypten und der nordafrikanischen Küste und sogar mit so fernen Ländern wie Spanien und Frankreich großes Vermögen an. Französische Architekten wurden in die Stadt geholt, um auf den Hügeln, die den Hafen überragten, prächtige Villen zu erbauen. Viele von ihnen stehen noch heute in der schönsten mediterranen Hafenstadt.
Als der grausame libanesische Bürgerkrieg ausbrach, hatten die Bewohner von Sur am meisten unter den unbarmherzigen Angriffen der israelischen Armee zu leiden, die schließlich in die Stadt einfiel und sie besetzte. Sie wollte die den Islam unterstützenden Rebellengruppen, die im Südlibanon operierten und ihre Sicherheit bedrohten, vernichten. Männer, Frauen, Junge und Alte, Muslime, Christen und Drusen wurden von der israelischen Armee zusammengetrieben, wenn sie im Verdacht standen, Terroristen oder Anhänger zu sein. Ob sie nun unschuldig oder schuldig waren, wurden sie ohne Rücksicht auf ihr Alter - einige waren erst vierzehn Jahre alt - in Gefängnisse geworfen, die die Israelis kontrollierten. Dazu gehörte auch das berühmtberüchtigte Gefangenenlager in Khyam im Südlibanon.
Hunderte arabischer Gefangener siechen noch heute in anderen israelischen Gefängnissen dahin. Einige sind seit fast fünfzehn Jahren Geiseln, vergessene Gefangene in dem endlosen Krieg der Araber und Juden.
An diesem sonnigen Nachmittag Ende Juli, fast vier Monate, bevor Abu Hasims Drohung ans Weiße Haus geliefert wurde, kam ein Besucher in die friedliche Stadt. Der gut aussehende Mann mit dem schmalen Gesicht, blondem Haar und markanten Wangenknochen war Ende dreißig. Eine Seite seines Mundes war zu einem leichten Grinsen verzerrt, als würde er sich ständig über die Welt und die Menschen amüsieren. Er fuhr in die Berge, bis er schließlich das Landhaus fand, vor dem ein alter grauer Renault parkte. Es war ein hübsches Fleckchen Erde, das einst einem französischen Kolonialarzt gehört hatte. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick aufs Meer. In den großen Gärten wuchsen Jasmin und Olivenbäume.
Der Mann ging mit seinem Strauß gelber Rosen den Weg hinauf. Er klopfte an die blau gestrichene Tür und lächelte, als diese geöffnet wurde. »Hallo, Karla.«
Die dunkelhaarige Frau mit den mandelförmigen Augen und dem südländischen Aussehen war von bemerkenswerter Schönheit und etwa in seinem Alter. Sie trug eine Jeans und einen hellblauen Pullover. Als sie den Besucher erkannte, riss sie die Augen auf und schlug ungläubig eine Hand vor den Mund. Sie schien einen mächtigen Schreck bekommen zu haben, als hätte sie einen Geist erblickt. Nachdem sie den Mann ein paar Sekunden angestarrt hatte, versuchte sie, etwas zu sagen.
Dann verlor sie die Besinnung.
Nikolai Gorev tupfte Karla Sharifs Gesicht mit einem nassen Handtuch ab. Sie hielten sich in der Küche im hinteren Teil des Hauses auf. Im Fenster standen Blumenkästen und in den Rega len Vorratsgläser mit Tee, Kaffee und Gewürzen. Er hatte sie ins Haus getragen und auf einen Stuhl gesetzt. »Habe ich dir einen so großen Schreck eingejagt?«
»Ich… ich dachte, du wärst tot.«
Gorev lächelte. »Es gibt ein paar Leute, die wären heilfroh, wenn das stimmen würde. Bist du okay, Karla?«
Sie stand auf und strich ihm über die Wange, als wollte sie sich vergewissern, dass er tatsächlich kein Geist war. Dann schlang sie die Arme um seinen Nacken und drückte ihn mit feuchten Augen an sich. »Oh, Nikolai, es ist so schön, dich zu sehen. Ich freue mich wahnsinnig.«
»Ich auch.«
Sie ließ die Arme sinken, trat einen Schritt zurück und schaute Gorev ins Gesicht. »Was machst du in Sur? Warum bist du hier?«
»Ehrlich gesagt, ist es kein Freundschaftsbesuch.«
»Und was ist der Grund?«
Gorev lächelte und nahm den
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