Meade Glenn
fragte der Engländer.
Sanchez blickte ihn ausdruckslos an. Das Mädchen sah hoch und übersetzte das Wort ›Gerichtsmediziner‹ rasch ins Spanische. Sanchez erinnerte sich im gleichen Augenblick an die Vokabel und lächelte. Es war ein kurzes, freudloses Lächeln, mit dem er ihr sagen wollte, daß er ihre Trauer mitfühle.
»Sie sprechen sehr gut spanisch, Señorita«, stellte Sanchez freundlich fest.
»Ich bin in Buenos Aires geboren«, antwortete das Mädchen ruhig.
Sanchez nickte. Das hatte ihm Hernandez nicht verraten. Er sah wieder Volkmann an.
»Die Gerichtsmediziner glauben, daß die beiden Opfer mit verschiedenen Messern getötet worden sind, beides Jagdmesser.
Derjenige, der Rudi Hernandez umgebracht hatte, benutzte eine sehr große Klinge, vielleicht ein Bowiemesser. Mehr haben sie nicht feststellen können. Keine Fingerabdrücke am Tatort. Ein paar schwache Fußabdrücke, aber nichts, was wirklich hilfreich wäre. Die Leichen hatten Prellungen an Armen und in den Gesichtern, so daß man davon ausgehen kann, daß die Mörder Helfer hatten. Aber wer sie auch gewesen sein mögen, sie waren extrem darum besorgt, keine Spuren zu hinterlassen. Es gibt keine Abdrücke, keine brauchbaren Hinweise für die Spurensicherung. Und ein Messer ist nicht wie eine Kugel.
Solche Waffen zu verfolgen, ist viel schwieriger. Meine Männer haben die Umgebung des Hauses und sogar den Barrio selbst durchkämmt. Sie haben keine Spur gefunden. Weder ein weggeworfenes Messer noch blutige Kleidung. Absolut nichts.«
Sanchez sah, wie das Mädchen bei seinen Worten zusammenzuckte und bedauerte, daß er so deutlich geworden war Er nahm die Tasse mit dem heißen Tee, trank einen Schluck von der grünen, aromatischen Flüssigkeit und stellte das Gefäß wieder ab. Seine Besucher hatten ihre Getränke noch nicht angerührt. Er hätte Coke bestellen sollen, denn dieser Yerba-mate war ihnen sicher zu bitter und zu heiß.
Er zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und bot Volkmann und der jungen Frau zu Rauchen an. Als beide ablehnten, zündete er sich selbst eine Zigarette an und lockerte seine Krawatte noch mehr. Das Mädchen beugte sich vor. Ihre Stimme klang leise und gepreßt.
»Dieses Haus, in dem die Leichen gefunden worden sind …
Hat denn niemand etwas gesehen oder gehört? Gibt es keine Zeugen? Jemand muß doch etwas gehört haben.«
Sanchez stieß den Rauch aus und schüttelte den Kopf. »Der alte Mann, den ich eben schon erwähnt habe, hat nichts gesehen oder gehört. Er hatte am Abend vorher viel Cana getrunken. Ich habe mit vielen Leuten aus dem Barrio geredet. Aber es bleibt mysteriös. Niemand hat etwas gesehen oder gehört. Und glauben Sie mir, die Leute hätten geredet, wenn sie etwas gewußt hätten. Der Tod des Mädchens hat sie schockiert. Ein paar alte Männer haben gesehen, wie Rudi am Abend vor seinem Tod gegen halb acht in das Haus gegangen ist. Sie haben nicht gesehen, wie er wieder herauskam. Und ein Mann, der unten am Fluß wohnt, sagte, er sei vom Geräusch eines Wagens aufgewacht, der sehr früh morgens am Ufer entlanggefahren ist.
Aber er habe nichts Ungewöhnliches gehört.« Er hielt einen Augenblick inne, bevor er weitersprach. »Nur eine Kleinigkeit gibt es da aber. Sie könnte wichtig sein.«
Sanchez zögerte wieder. Seine Besucher schauten ihn erwartungsvoll an. »Am Tag nach dem Mord an Rudi und dem jungen Mädchen hat die La Tarda einen Artikel darüber veröffentlicht, mit Fotos von Rudi und dem jungen Mädchen auf der Titelseite. Ein Nachtwächter des Hauptbahnhofes an der Plaza Uruguaya ist auf die Wache gekommen. Er hat ausgesagt, daß ein Mann, der aussah wie Rudi, den Hintereingang des Bahnhofs passiert habe, und zwar am Morgen der Morde, etwa gegen drei Uhr. Aber der Wachmann war sich nicht hundertprozentig sicher. Er war sehr müde, weil er den ganzen Nachmittag auch schon Dienst hatte.« Sanchez zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war Rudi am Bahnhof, vielleicht auch nicht. Vielleicht wollte er Asunción mit dem Mädchen verlassen, weil er wußte, daß sie in Gefahr schwebten. Aber um die Zeit hatten die Fahrkartenschalter geschlossen. Andererseits könnte er auch einfach spazierengegangen sein, weil er nicht schlafen konnte – wenn es überhaupt Rudi war.«
Sanchez blickte Volkmann scharf an. »Natürlich taucht der Bericht, den mir Ihre Vorgesetzten geschickt haben, die Sache in ein ganz anderes Licht. Vor allem, wenn wir in Betracht ziehen, was Rudi gesagt hat und
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