Meade Glenn
weshalb die beiden wohl zusammen gereist waren. Seit er den übersetzten Bericht gelesen hatte, beschäftigte ihn zusätzlich die Frage, was noch hinter dem Tod von Rodriguez, Hernandez und dem jungen Mädchen stecken mochte. Er blickte auf, noch einmal brauchte er die Akte nicht zu lesen. An die Einzelheiten erinnerte er sich noch sehr genau, weil er ständig darüber nachgedacht und darin nach verborgenen Hinweisen gesucht hatte. Auf seinem Schreibtisch lag ein fotokopierter Stadtplan von Asunción, auf dem die Gegend rot umrandet war, in der die Leichen aufgefunden worden waren. Sanchez drehte den Plan herum, so daß seine Gäste ihn sehen konnten, und deutete auf die Straße, in der das Haus des jungen Mädchens stand. Er räusperte sich.
»Hier haben wir die Toten gefunden«, sagte er langsam.
»Am Morgen des Sechsundzwanzigsten, in einem Haus im Bezirk La Chacarita in der Nähe des Paraguay, nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt. Rudis Wagen parkte vor dem Haus. Die Schlüssel haben wir im Gras davor gefunden, als hätte sie jemand dorthin geworfen.«
»Wem gehört das Haus?« fragte Volkmann, als der Beamte eine Pause machte.
»Dem jungen Mädchen, dessen Leiche wir neben Rudi Hernandez gefunden haben. Sie hieß Graciella Campos und war siebzehn Jahre alt, geistig leider etwas zurückgeblieben. Das Mädchen hat keine lebenden Angehörigen mehr. Sie hatte das Haus gemietet.«
Sanchez sah, wie sich das Mädchen vorbeugte, und bemerkte den Schmerz in ihren blauen Augen. »Dieses Mädchen …
kannte sie Rudi?«
» Sí. Ich habe herausgefunden, daß er ihr Geld gegeben hat.
Um Essen und Miete und Kleidung zu bezahlen. Aus reiner Menschlichkeit, verstehen Sie? Das war keine Bezahlung für etwas anderes, sie waren einfach nur Freunde.«
Sanchez hielt inne und hoffte, daß er die richtigen Worte benutzte. Ob seine Besucher ihn wirklich verstanden? Erika Kranz’ Gesicht war blaß, nicht von der Hitze, sondern vom Schmerz, den sie innerlich verspüren mußte. Sie nickte, Volkmann ebenfalls.
Sanchez senkte respektvoll die Stimme. »Das Mädchen und Rudi sind beide mit Messerstichen getötet worden. Ein alter Säufer, der manchmal in einer Gasse in der Nähe des Hauses von dem Mädchen schläft, hat die Leichen gefunden. Das Mädchen hat ihm morgens meistens einen Tee gemacht. Als sie auf sein Klopfen nicht geantwortet hat, ist er einfach ins Haus gegangen. Die Tür war offen. Als er die Leichen fand, holte er sofort einen Priester aus der Nachbarschaft, und der hat die Policia verständigt.«
»Wie lange waren sie schon tot?« wollte Volkmann wissen.
»Nicht sehr lange. Etwa vier bis fünf Stunden.«
Sanchez nahm einige Polizeifotos aus der Akte und reichte sie Volkmann. Dabei achtete er darauf, daß das Mädchen sie nicht sehen konnte. Er blickte Erika Kranz direkt an. »Verzeihen Sie mir bitte, aber es wäre wohl besser, wenn Sie sich das nicht ansehen, Señorita. Die Fotos sind nicht sehr erbaulich.«
Die junge Frau wandte mit qualvoller Miene das Gesicht ab.
Sanchez hatte Volkmann beim Aussteigen leise gefragt, ob es in Ordnung wäre, wenn sie vor der Señorita redeten. Das hatte der Mann bejaht. Aber mit den Fotos war das etwas anderes. Sie waren nicht für die Augen der jungen Frau geeignet.
Die Gerichtsmediziner hatten fünf Aufnahmen gemacht, alle in Farbe – in lebhaften, übelkeitserregenden Farben. Volkmann betrachtete sie sorgfältig. Zwei zeigten den Leichnam von Hernandez, zwei den des Mädchens, ein Foto beide Leichen dicht nebeneinander, mit dem Gesicht nach oben. Das Mädchen sah im Tod mitleiderregend aus, ihre Augen waren geschlossen, als schliefe sie. Die Bestialität ihrer Wunden erschütterte Volkmann. Man hatte ihr mit dem Messer den Rumpf von dem Tal zwischen ihren Brüsten bis zum Nabel aufgeschlitzt, und Organe und Eingeweide hingen heraus. Das einfache weiße Nachthemd hatte man oberhalb ihrer Taille aufgerissen, und es war blutdurchtränkt.
Dann betrachtete Volkmann die Fotos von Hernandez und versuchte, sich um Erika Kranz willen nichts anmerken zu lassen. Der Mann hatte fast denselben Tod erlitten. Sein Körper war bis zum Unterleib aufgeschlitzt und ausgeweidet worden.
Volkmann verzog angewidert das Gesicht und gab Sanchez die Fotos zurück, der sie rasch wieder in die Akte schob. Dann betrachtete er die junge Frau, die zwar ihre Tränen tapfer zurückhielt, deren Miene aber Schmerz und Trauer verzerrten.
»Capitán Sanchez, haben die Gerichtsmediziner etwas gefunden?«
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