Mecklenburger Winter
den Abgrund zu stürzen. Leon brauchte Kraft für den freien Fall, sonst würde er nicht wieder zurückkommen. Das verstand Kai sehr wohl. „Ich versuche leise zu sein. Also wenn du was hörst, dreh dich einfach um und penn weiter.“ Kai lächelte, die Finger drückten sich um die Schulter zusammen. Einmal. Zweimal. Zögernd löste er sie.
Noch immer starrte Leon auf den Fußboden, die Hände auf den Oberschenkeln, schwankend vor dem Abgrund, einen, nur einen winzigen Schritt davor. Wenn er fallen würde, Kai würde da sein, ihn halten. Und er war sich sicher, dass Leon das wusste. Leon holte seltsam rasselnd Atem und trat zurück, Kai spürte es und wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte.
„Ist gut“, murmelte Leon. Abermals trat Kai den schweren Gang zu seinem Schlafzimmer an. Es war leichter. Erneut blieb er im Türrahmen stehen, und es gelang ihm, zu lächeln.
„Oh und falls ich heute Nacht vor Sehnsucht zu krepieren drohe und mich zu deinen Füßen auf dem Teppich zusammenrolle, ignoriere mich bitte, ja?“ Leons graugrüne Augen wollten Kai dazu bringen, genau dies sofort zu tun. Wie schon zuvor gab der Türrahmen Halt. Leon leckte sich über die Lippen, nickte und lächelte zögernd. „Schlaf gut.“ Das Lächeln blieb. Kai wünschte ebenfalls Gute Nacht und sein Fuß erhob sich.
„Kai?“ Abrupt wandte dieser den Kopf. „Wenn du es gar nicht aushältst ...“ Leons Lächeln wurde intensiver, sein Blick weicher. „Ich rutsch auch zur Seite, damit du mit auf die Couch kannst.“ Obwohl Kais Mundwinkel sich zu einem Grinsen hoben, war da noch immer ein Kloß in seiner Kehle, der partout jedem Versuch, ihn hinabzuschlucken trotzte. „Das nenne ich ein faires Angebot“, brachte er dennoch hervor. „Schlaf gut, Leon. Und grübel nicht so viel.“ Was für ein weiterer klugscheißerischer Spruch. Kai schloss die Tür hinter sich und wusste, dass Leon seinen Rat nicht beherzigen würde noch konnte. Ebenso wenig wie er selbst.
Das Einzige, was ihm helfen würde, diese Nacht durchzustehen, waren Leons Worte: „Ich liebe dich auch. Wirklich.“
Es war das Seil, welches Kai ihm zuwerfen würde. Wieder und wieder, bis Leon es endlich festhalten und sich daran hochziehen konnte.
56 Unterste Schublade
Kai fühlte sich wie gerädert. Die Nacht war eine der schlimmsten gewesen, die er je erlebt hatte. Dutzend Mal hatte er sich halb erhoben, um hinüber ins Wohnzimmer zu gehen, wenigstens einen Blick auf Leon zu werfen. Gefühlte tausend Mal hatte er hoffnungsvoll den Kopf gedreht, weil er glaubte, ein Geräusch an der Tür gehört zu haben und erwartete, Leon würde zu ihm unter die Bettdecke krabbeln.
Wunschträume.
Sein Wecker piepste und genervt schaltete Kai ihn aus. Blödes Teil, er war schon längst wach und brauchte keinen Hinweis darauf, dass es 5 Uhr war, Zeit aufzustehen und sich aufs Fahrrad zu schwingen, um draußen in der noch herrschenden Dunkelheit zu trainieren. Bestimmt war es lausig kalt und bei seinem Glück würde es in Strömen regnen. Missmutig stand er auf und zog sich seine Trainingssachen an. Er bewegte sich leise, denn wenn Leon noch schlief, wollte er ihn auch nicht wecken.
Er öffnete ebenso vorsichtig die Tür, pirschte sich mit pochendem Herzen an die Couch heran und spähte über die Lehne. Das Licht aus dem Schlafzimmer beleuchtete Leons Gesicht. Er schlief, den Mund ganz leicht geöffnet. Selbst bei der spärlichen Beleuchtung war der dunkle Bluterguss noch zu erkennen, weckte augenblicklich Kais schlummernden Rachedurst. Minutenlang beobachtete er Leon, grub sich jede Linie in sein Gedächtnis.
Leon hatte gesagt, er würde ihn lieben. Das war ein Anfang. Ein guter Anfang, fand Kai, auch wenn er dennoch das Gefühl hatte, fünfzig Schritte zurückgeworfen worden zu sein. Dies war schlimmer als jeder Ultra, den er je gelaufen war, stellte seine Geduld und Ausdauer auf eine viel größere Probe. Aber ich bin ein Siegertyp. Ich habe bisher jedes Ziel erreicht und so wird es auch dieses Mal sein. Nur dieses Mal mit Leon an meiner Seite.
Dieser bewegte sich und schlug blinzelnd die Augen auf. Als er Kai erkannte, hoben sich die Lippen zu einem feinen Lächeln.
„Guten Morgen.“ Kai wurde bei dem Anblick beinahe von einem Anfall Liebe im höchsten Grad zu Boden geworfen. Er wollte sich jetzt zu gerne einfach auf Leons Angebot berufen und sich neben ihn kuscheln, durch die Haare fahren, küssen und ihn und sich vergessen lassen, was geschehen war und
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