Mecklenburger Winter
Leon sofort heimkam.
Leons Mutter seufzte: „Ist bestimmt besser so. Burghardt ist gerade ...“ Sie sprach nicht weiter. Kai lauschte auf Geräusche im Hintergrund, doch da war diesmal nichts zu hören. „Er meint es nicht wirklich so. Nur manchmal rastet er ein wenig aus. Wir haben gerade viel Stress und Arbeit wegen diesem Winter und da ...“ Kai verstand sie, aber er konnte es nicht nachvollziehen. Egal wie, so behandelte man seinen Sohn nicht.
„Leon gibt sich immer so viel Mühe, ihm alles recht zu machen“, fügte Anneliese leiser hinzu, klang selbst durchs Telefon ein wenig verzweifelt. „Ich werde mit ihm reden. Leon braucht auch mehr Freizeit. Er ist ja erst siebzehn, das muss er einsehen.“ Sie seufzte erneut und vor Kais innerem Auge stand sie mit gesenkten Schultern, ein wenig, wie er Leon erlebt hatte. Burghardt schien beide etwas einzuschüchtern. Gerne hätte Kai ihr etwas Tröstendes gesagt, doch in ihm rumorte viel zu viel Wut auf diesen Mann. Leons Mutter war schließlich erwachsen. Sie konnte sich wehren. Leon hingegen war noch jung und völlig abhängig von seinem Vater. Wie sollte er sich allein gegen ihn durchsetzen?
„Es ist in Ordnung, wenn er bis morgen noch bei Ihnen bleibt“, sagte Anneliese entschlossener. „Ich werde es ihm schon erklären. Ich danke Ihnen sehr, Herr Strelmann.“ Sie machte eine Pause und fügte hinzu: „Bitte grüßen Sie ihn und sagen ihm, dass ich ihn sehr liebe.“ Kai nickte. „Ich bringe ihn morgen vorbei.“ Warum konnte er nur so wenig für Leon tun?
„War er sehr sauer?“, unterbrach Leons Stimme seine Gedanken und er wandte sich um. Leon stand im Durchgang zum Wohnzimmer. Er sah jünger aus, als er war. Die schmalen Schultern waren nach vorne gekippt. „Ich hätte nicht einfach gehen dürfen. Die Pferde müssen versorgt werden. Morgen werden sie mich brauchen. Das Wasser friert viel zu schnell ein und wir müssen noch einen Rundballen zu den Ponys bringen. Ich … ich sollte wieder heimgehen.“
„Nein“, entschied Kai rigoros. „Deine Mutter hat gesagt, dass es okay ist, wenn du erst morgen Abend wieder kommst. Sie war nicht sauer auf dich und einen Tag werden sie wohl auch ohne dich auskommen.“ Leon blickte auf seine Füße. Er wirkte wie ein Häufchen Elend, und Kai trat auf ihn zu, zögerte nur einen winzigen Moment, dann zog er ihn entschlossen an sich. Ich werde es so bitter bereuen, dachte er zynisch, ganz blöde, gefährliche Idee. Aber Leon braucht jetzt die Umarmung eines echten Freundes.
Tatsächlich ließ dieser sich gefallen, dass Kai seine Arme um ihn schlang. Kai wagte kaum zu atmen und drückte Leon langsam stärker an sich. Für einen Moment spannte sich dieser an, doch dann seufzte er und sein Kopf lehnte mit einem Mal an Kais Schulter.
„Er steht doch nicht so früh auf. Wenn ich nicht morgens fütterte, dann bekommen die Pferde erst um zehn oder später ihr Futter. Und wenn das Wasser abends einfriert, stehen sie viel zu lange ohne Trinken“, erklärte Leon mit leiser Stimme. „Mutter kann das Wasser nicht alleine schleppen, sie braucht mich.“ Er zitterte und für einen Moment glaubte Kai, er würde doch weinen, doch er holte nur noch einmal seufzend Luft.
„Das werden sie schon ohne dich hinbekommen“, meinte Kai beruhigend, atmete Leons Duft ein, versuchte sich diesen kostbaren Augenblick ganz genau einzuprägen. Sein Herz wummerte verdächtig schnell. Was für ein schönes Gefühl. Bitte lass ihn sich nie wieder bewegen. Lass uns einfach bis in alle Ewigkeiten so stehen bleiben. Leider war keine Fee und kein Weihnachtsmann da, um Kais Wünsche zu erfüllen. Wie immer drückten die sich.
„Ja.“ Leon löste sich von Kai, der ihn nur äußerst widerwillig gehen ließ. „Einen Tag wird es schon gehen.“ Er lächelte verlegen, vielleicht war ihm dieser schwache Moment wirklich peinlich. Er wandte sich hastig ab und ging zurück ins Wohnzimmer. Kai verdrehte verzweifelt die Augen und schimpfte mit den unbekannten Himmelsmächten. Er hoffte, dass sein gut trainierter Körper die kurzfristige Blutverteilung schnell wieder in den Griff bekommen würde und atmete langsam aus. Noch immer war Leons Duft in seiner Nase, spürte er das Kitzeln der Haare an seinem Hals. Nie wieder duschen, auch nicht bewegen, dann bleibt die Erinnerung länger haften. Die reguläre Blutverteilung schaltete den Verstand ein und wies ihn dezent darauf hin, dass er verknallter Trottel noch im Flur stand und die Decke anhimmelte.
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