Mecklenburger Winter
entschlossen vorgerecktes Kinn, die straffen Schultern, die feste Stimme, das war alles sehr überzeugend. Sein verzweifelter Blick hatte Kai allerdings die richtige Botschaft vermittelt: Leon konnte definitiv nicht zugeben, nicht einmal vor sich selbst, dass er schwul war oder auch nur bi. Noch viel weniger, dass ihn Kais Kuss in irgendeiner Weise gefallen hatte. Nicht der Kuss eines anderen Mannes. Es war undenkbar. Für Leon.
Resignierend erkannte Kai das eigentliche Problem. Sein Gegner in diesem schwierigen Wettbewerb war nicht so sehr Leons Überzeugung oder gar seine Unsicherheit im Bezug auf seine sexuelle Orientierung. Der unüberwindliche Gegner hierbei war vielmehr, was Leons Vater seinem Sohn jahrelang über Schwule und Schwulsein eingeredet hatte. Diese absurde moralische Vorstellung, wie schlecht es wäre schwul zu sein, wie verachtenswert, wie krank und pervers.
Wie sollte Kai daran vorbeikommen, wie Leon seine Angst nehmen, eben doch genau den Befürchtungen, diesem Klischee zu entsprechen? Wie schwer musste es sein, zu erkennen, dass der eigene Vater mit den Beschimpfungen doch irgendwo richtig lag? Kai schüttelte ärgerlich den Kopf und konnte doch ganz genau nachvollziehen, wie Leon sich fühlen musste. Natürlich musste der er sich fragen, ob sein Vater nicht in allem Recht hatte. Ein entsetzlicher Gedanke.
Leider gab es nichts, was Kai tun konnte. Grübelnd spielte er ein Szenario nach dem anderen durch. Szenen, in denen er Leon direkt damit konfrontierte, dass er sehr wohl gemerkt hatte, wie gut dieser den Kuss fand, ebenso wie Szenen in denen er ihn sich schnappte und ihn einfach so lange küsste, bis auch er die Wahrheit nicht länger leugnen oder gar ignorieren konnte. Vor allem das letzte Szenario hatte durchaus etwas Reizvolles an sich. Dazu musste Kai nur an die Bilder des nahezu nackten Leons denken. Gar kein Problem. Dazwischen schob sich unfairerweise immer wieder die stumme Bitte in Leons graugrünen, traurigen Augen.
Gequält schloss Kai seine und drehte das Wasser ab. Ja, ich habe es kapiert. Wenn er Leon zu sehr auf die Pelle rückte, dann würde der ganz gewiss fliehen. Er war noch nicht dazu bereit, sich der Wahrheit zu stellen. Kai stieg aus der Dusche blickte sich um und schnappte sich seufzend Leons benutztes Handtuch. Er hatte vergessen sich vorhin ein trockenes zu holen. Und völlig nackt würde er ganz bestimmt nicht durch seine Wohnung gehen. Nicht, wenn die Gefahr bestand, dass Leon ihn erblickte. Womöglich noch irgendein verräterisches Anzeichen an Kai. Von diesen Peinlichkeiten hatte er wahrhaftig heute schon genug erlebt.
Missmutig rubbelte sich Kai die Haare trocken. Nein, er würde nichts sagen. Er würde ihre empfindliche, kostbare Freundschaft nicht aufs Spiel setzen, indem er ihn mit der Wahrheit bedrängte. Leon fühlte sich ganz offensichtlich zu ihm hingezogen. Bislang hatte er sich weder von Kais ersten plumpen Anmachversuchen, noch von dessen deutlichem Interesse abschrecken lassen. Jedes Mal war er wieder auf Kai zugekommen, suchte augenscheinlich dessen Gesellschaft. Kai war für ihn mittlerweile Zufluchtsort und Ansprechpartner geworden. Vielleicht würde daraus auch irgendwann mehr werden.
Ich muss ihm nur eine Chance geben und das Tempo bestimmen lassen, erkannte er seufzend. So sehr er es sich auch wünschte, es ließ sich nicht beschleunigen. Solange Leon sich selbst verleugnete und versuchte zu verdrängen, was er fühlte, musste Kai sich mit Freundschaft zufriedengeben. Dabei sehnte er sich danach, ehrlich zu sein, Leon endlich all seine Gefühle zu gestehen und ihm zu zeigen, dass rein gar nichts Falsches daran war, einen anderen Mann zu lieben.
Dieses Mal ging es nicht gradlinig, wie Kai es gerne hätte. Es ging hier auch nicht in erster Linie um ihn, um seine Triebbefriedigung, sondern um Leon, dessen Gefühle und Ängste. Kai konnte nur hoffen, dass Leon irgendwann zu seinen Gefühlen stehen konnte. Verdammt, er ist auch noch ganz schön jung und ganz anders als ich. Vielleicht muss Leon auch erstmal ein paar Fehlstarts mit Mädchen hinlegen, wie ich, bis er kapiert, dass es mit einem Kerl einfach viel mehr Spaß macht. Irgendwo in Kai regte sich eine leise Stimme, die sorgenvoll daraufhin wies, dass Leon auch bi sein konnte und somit die Chance bestand, dass er durchaus Gefallen an Sex mit einer Frau finden würde. Geflissentlich ignorierte Kai sie.
Er seufzte abermals tief auf, als er sich fertig abgetrocknet hatte. Zum Glück konnte
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