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Medea. Stimmen

Medea. Stimmen

Titel: Medea. Stimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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nicht! ernst genommen, hat mir meine Angst nicht ausreden wollen, ich weiß, hat sie gesagt, es ist genauso, als würde dir ein Arm oder ein Bein fehlen, nur sieht keiner, was dir fehlt. Sie hat Geduld gehabt, sicher aus Berechnung, und ich wüßtenicht mehr zu sagen, wie sie mich dazu gebracht hat, eines Tages an ihrer Hand über den Hof zu gehen. Sie hielt mich ganz fest, das weiß ich noch, sie sprach leise mit mir, als wir uns der Stelle näherten und meine Hände feucht wurden und meine Füße sich gegen den Boden stemmten, sie beruhigte mich durch ihre Worte, nein, es war mehr als Beruhigung, es war eines ihrer Zauberkunststücke, das ist mir jetzt klar, denn auf einmal nahm ich nichts mehr wahr als eine große Stille, und als die Geräusche wiederkehrten, saß ich neben ihr auf der Steinbank am anderen Ende des Palasthofes im Schatten des uralten Olivenbaumes, ich mußte also doch gelaufen sein, jene Stelle passiert haben, ohne in die Zustände zu verfallen, vor denen ich mich so fürchtete, fast war mir, als müsse ich sie nachholen, damit alles seine Richtigkeit hatte, aber sie sagte, das sei nun nicht mehr nötig, sie legte meinen Kopf in ihren Schoß, strich mir über die Stirn und redete leise von dem Kind, das ich einmal gewesen sei und das mit jener Stelle auf dem Hof eine unerträgliche Erinnerung verbinde, die ich hätte vergessen müssen, um weiterleben zu können, was ja auch in der Ordnung gewesen sei, wenn nicht im Kopf des Kindes, während es heranwuchs, das Vergessene mitgewachsen wäre, ein dunkler Fleck, der größer wird, verstehst du mich, Glauke, bis er sich des Kindes, des Mädchens bemächtigt habe, ach ich verstand sie, nur zu genau verstand ich sie, sie warf mir das Seil zu, an ihren Fragen sollte ich mich hinablassen, sie wollte mich vorbeiführen an den gefährlichen Stellen, die ich alleine nicht passieren konnte, sie wollte sich unersetzlich machen, das mußte ich einsehen.
    Es hat lange gedauert, bis ich zugeben mußte, daß ichmich auch in diesem Punkt getäuscht habe, habe täuschen lassen, aber was ist denn überhaupt richtig, kann ich denn meinen Augen noch trauen, kann ich mich noch auf irgendeinen Menschen verlassen.
    Ich weiß nicht, ich weiß es wirklich nicht, wie sie mich dazu gebracht hat, zu reden, ich meine, über das zu reden, was ich vergessen hatte, was mir erst in dem Augenblick einfiel, in dem ich es ihr erzählte. Vielleicht denke ich mir das jetzt aus, sagte ich, das macht ja nichts, sagte sie, mein Kopf lag in ihrem Schoß, noch nie hatte ich jemandem den Kopf in den Schoß gelegt, vielleicht doch, sagte sie, vielleicht hast du so mit deiner Mutter gesessen und weißt es nicht mehr. Wie kommst du darauf, rief ich, sie antwortete nicht, sie antwortete nie auf bestimmte Fragen, daran sieht man, wie berechnend sie war, sie rechnete damit, daß ich das Schweigen nicht aushalten würde und weiterreden mußte, mich über meine Verlegenheit hinwegreden mußte, ich redete und redete, bis ein Satz fiel, der ihr zupaß kam, etwas Beiläufiges, Unwichtiges, das pickte sie sich heraus und drehte mir daraus einen Strick. War es das erste Mal, daß deine Eltern sich stritten? Wieso, sagte ich, was meinst du. Da hatte ich ihr also erzählt, daß die Mutter eines Tages – da muß sie noch mit uns im Palast gelebt haben, schön mit ihrem langen tiefschwarzen lockigen Haar – einmal hier auf dem Palasthof stand, die Arme gegen den Himmel schüttelte, sich die Haare in Büscheln ausriß und schrie. Ich warf meinen Kopf im Schoß der Frau herum, so fing es immer an, und es hätte mich ins tröstliche Vergessen zurückgerissen, doch das duldete sie nicht, die Frau, sie hielt meinen Kopf fest, sie setzte ihre Kraft dagegen und sagte mit fester, zornigerStimme: Nein!, weiter, Glauke, weiter, und ich sah den Mann, auf den die Mutter losging, der sie beim Namen rief und versuchte, sie sich vom Leib zu halten, sie zerkratzte ihm das Gesicht mit den Nägeln. Wer war dieser Mann, Glauke. Der Mann der Mann, welcher Mann. Ruhig, Glauke, ganz ruhig, sieh hin.
    Der Mann war der König. Der Vater.
    Ich hasse sie. Wie ich sie hasse. Daß sie ihren kleinen Bruder umgebracht hat, ich glaube es. Sie ist zu allem fähig. Eine wie sie muß alle Übel, die die Götter schikken können, auf eine Stadt herabziehen, wenn man sie machen läßt, sie müßte einfach verschwinden, so als wäre sie niemals hier gewesen, sie selbst hat mir beigebracht, daß ich mir keinen Gedanken verbieten muß, die

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