Medicus 01 - Der Medicus
derjenige, der sie Abu Ali al-Hussein Ibn Abdullah Ibn Sina, Arzt aller Ärzte, am maristan in Isfahan, überbringt, großzügig belohnt werden. Gegeben am 16. Tag des Monats Rabia I, im 413. Jahr nach der Hedschra.
Wir sind seit vier Tagen in Schiras, während denen allem 243 Menschen gestorben sind. Die Pest beginnt als leichtes Fieber, gefolgt von Kopfschmerzen, manchmal sehr schweren. Das Fieber steigt, und kurz danach tritt eine krankhafte Veränderung, für gewöhnlich bubo genannt, in der Leiste, in einer Achselhöhle oder hinter einem Ohr auf. Im Pestbuch werden solche bubos erwähnt, von denen hakim Ibn al-Khatim aus Andalusien meinte, daß sie vom Teufel stammen und immer die Form einer Schlange aufweisen. Die hier beobachteten sind nicht schlangenförmig, sondern rund und voll wie die krankhafte Veränderung eines Geschwürs. Sie können so groß wie eine Pflaume werden, aber die meisten haben die Größe einer Linse. Oft erbricht der Kranke Blut, was immer daraufhinweist, daß der Tod unmittelbar bevorsteht. Die meisten Opfer sterben innerhalb von zwei Tagen nach Auftreten eines bubo . Einige wenige haben Glück, weil das bubo eitert. Wenn dieser Fall eintritt, ist es so, als würde ein schlechter Saft aus dem Patienten entweichen, der dann vielleicht gesundet.
Jesse ben Benjamin, Student
Das Gefängnis hatte man in ein Pesthaus umgewandelt, nachdem die Gefangenen freigelassen worden waren. Es war mit Toten, Sterbenden und frisch Erkrankten überfüllt. Es waren so viele, daß es unmöglich war, einen von ihnen zu behandeln. Die Luft barst vom Stöhnen und Schreien, vom Gestank nach blutig Erbrochenem, ungewaschenen Körpern und menschlichen Exkrementen. Nachdem Rob sich mit den anderen drei Studenten beraten hatte, ging er zum kelonter und ersuchte darum, die Zitadelle benutzen zu dürfen, in der Soldaten untergebracht waren.
Seinem Wunsch wurde stattgegeben, und er ging im Gefängnis von einem Patienten zum anderen, beurteilte sie und faßte sie bei der Hand.
Die Botschaft, die dabei übermittelt wurde, war im allgemeinen schrecklich: Der Lebenskelch fast eines jeden war zu einem Sieb geworden.
Die Sterbenden wurden in die Zitadelle gebracht. Da es sich dabei um die Mehrzahl der Opfer handelte, konnten die noch nicht dem Tod Geweihten an einem sauberen und weniger überfüllten Ort gepflegt werden.
In Persien war Winter, das bedeutete kalte Nächte und warme Nachmittage. Die Bergspitzen glänzten vor Schnee, und am Morgen brauchten die Studenten Schaffellmäntel. Über dem Paß schwebten immer mehr schwarze Geier.
»Eure Leute werfen Leichen die Schlucht hinunter, statt sie zu verbrennen«, meldete Rob dem kelonter .
Kafiz nickte. »Ich habe es verboten, aber Ihr habt wohl recht. Das Holz ist knapp.«
»Jede Leiche muß verbrannt werden, ohne Ausnahme«, erkärte Rob entschieden, denn dies war eine Forderung, die Ibn Sina unnachgiebig vertrat. »Ihr müßt alles Erforderliche unternehmen, damit es auch bestimmt geschieht.«
An diesem Nachmittag wurden drei Männer geköpft, weil sie Leichen die Schlucht hinuntergeworfen hatten, und die Hinrichtung erhöhte die Zahl der Toten. Das hatte Rob nicht gewollt, und Hafiz war ängstlich.
»Woher sollen meine Männer das Holz nehmen? Alle unsere Bäume sind fort.«
»Schickt Soldaten in die Berge, damit sie Bäume fällen«, schlug Rob vor.
»Sie würden nicht mehr zurückkommen.«
Also beauftragte Rob den jungen Ali, Soldaten in die verlassenen Häuser zu führen. Die meisten Gebäude waren aus Stein, aber sie hatten hölzerne Türen, hölzerne Fensterläden und dicke Deckenbalken. Ali ließ die Männer das Holz herausreißen und -brechen, und außerhalb der Stadtmauern prasselten wieder die Scheiterhaufen.
Die Studenten versuchten, Ibn Sinas Anweisungen zu befolgen und durch vorgehaltene essiggetränkte Schwämme zu atmen, aber die Schwämme behinderte sie bei der Arbeit, weshalb sie sie bald wegwarfen. Sie folgten dem Beispiel von dem hakim Isfari Sanjar, würgten jeden Tag in Weinessig getauchtes Röstbrot hinunter und tranken reichlich Wein. Manchmal waren sie bei Einbruch der Nacht so betrunken wie der alte Medicus.
Wenn Mirdin zu tief ins Glas geschaut hatte, erzählte er ihnen von seiner Frau Fara und seinen kleinen Söhnen David und Issachar, die darauf warteten, daß er wohlbehalten nach Isfahan zurückkehrte. Er sprach sehnsüchtig vom Haus seines Vaters am Arabischen Meer, wo seine Familie die Küste bereiste und Zuchtperlen
Weitere Kostenlose Bücher