Medicus 01 - Der Medicus
Abend auf, mit ihm zu speisen.
»Der Meister hat einen Lieblingsstudenten«, spottete Mirdin, aber in seinem Lächeln lag Stolz und keineswegs Mißgunst. »Es ist gut, daß er sich für dich interessiert«, stellte Karim ernst fest. »Al-Juzjani wurde von Ibn Sina gefördert, seit sie junge Leute waren, und al-Juzjani ist ein großer Medicus geworden.« Rob runzelte die Stirn, denn er wollte die einmalige Erfahrung nicht einmal mit ihnen teilen. Er konnte nicht beschreiben, wie es war, einen ganzen Abend lang als einziger von Ibn Sinas Klugheit zu profitieren. An einem Abend hatten sie über die Himmelskörper gesprochen -oder, um es präzise auszudrücken, Ibn Sina hatte gesprochen, und Rob hatte zugehört. An einem anderen Abend hatte sich Ibn Sina stundenlang über die Theorien der griechischen Philosophen ausgelassen. Er wußte so viel und konnte es mühelos weitervermitteln. Rob hingegen mußte lernen, bevor er Karim beim Büffeln helfen konnte. Er beschloß, sechs Wochen lang keine anderen Vorlesungen zu hören als Rechtslehrgänge, und er holte sich aus dem Haus der Weisheit Bücher über Rechtspflege und Jurisprudenz. Karim in Jura zu helfen würde nicht einfach ein selbstloser Freundschaftsakt sein, denn Jura war ein Gebiet, das Rob vernachlässigt hatte. Wenn er Karim Beistand, bereitete er sich selbst auf den Tag vor, an dem er seine Prüfung ablegen würde. Im Islam gab es zwei Rechtsgrundlagen: Fiqb oder die Gesetzeswissenschaft und shan'a, das Gesetz, wie es von Allah göttlich offenbart worden war. Als noch die sunna hinzukam, Wahrheit und Recht, wie sie durch das beispielhafte Leben und die Aussprüche Mohammeds offenbart wurden, war das Ergebnis ein komplexes und kompliziertes Wissensgebiet, bei dem selbst Gelehrte verzagten. Karim versuchte, sich diesem Gebiet zu nähern, aber es war klar, daß es ihrri schwerfiel. »Das wächst mir über den Kopf«, klagte er. Die Anstrengung war ihm deutlich anzumerken. Zum erstenmal seit sieben Jahren, mit Ausnahme der Zeit, in der er in Schiras gegen die Pest gekämpft hatte, ging er nicht täglich in den tnanstan, und er gestand Rob, daß er sich ohne die ständige Routine der Behandlung von Kranken seltsam und fehl am Platz fühle.
Jeden Morgen, bevor er mit Rob zusammentraf, um Jura zu studieren, und dann mit Mirdin, um sich den Philosophen und ihren Lehren zu widmen, lief Karim im ersten grauen Tageslicht seine Runden. Einmal versuchte Rob, mit ihm zu laufen, aber er blieb bald weit hinter ihm zurück. Karim rannte, als versuche er, seinen Ängsten zu entkommen. Einige Male ritt Rob den braunen Wallach, um mit dem Läufer Schritt halten zu können. Doch beunruhigte diese tägliche Verausgabung Rob.
»Sie raubt Karim die Kraft«, beklagte er sich bei Mirdin. »Er sollte seine Energien auf das Studium konzentrieren.« Aber der kluge Mirdin zupfte an seiner Nase, strich über sein langes Pferdekinn und schüttelte den Kopf. »Nein, wenn er nicht laufen würde, wäre er nicht imstande, die schwere Zeit durchzustehen«, meinte er, und Rob gab klugerweise nach, denn er vertraute fest darauf, daß Mirdins gesunder Menschenverstand so groß war wie seine Gelehrsamkeit.
Eines Morgens wurde Rob zum Arzt aller Ärzte gerufen, und er ritt mit dem braunen Pferd über die Allee der tausend Gärten, bis er zu der staubigen Gasse kam, die zu Ibn Sinas schönem Haus führte. Der Torhüter nahm sein Pferd in Empfang, und als er zu der Steintüre kam, stand bereits Ibn Sina unter ihr, um ihn zu begrüßen. »Es geht um meine Frau. Ich wäre dankbar, wenn du sie untersuchen würdest.«
Rob verbeugte sich verwirrt; Ibn Sina fehlte es nicht an hervorragenden Kollegen, die es als Freude und Ehre empfunden hätten, seine Frau zu untersuchen. Er folgte Ibn Sina zu einer Tür, hinter der eine steinerne Treppe nach oben führte. Sie sah wie das Innere eines Schneckenhauses aus, und die beiden erstiegen den Nordturm des Hauses.
Die alte Frau lag auf einer Pritsche und starrte teilnahmslos und blicklos durch die zwei Männer hindurch. Ibn Sina kniete neben ihr nieder. »Reza.«
Ihre trockenen Lippen waren aufgesprungen. Er befeuchtete ein Tuch mit Rosenwasser und wischte ihr Mund und Gesicht zärtlich ab. Ibn Sina besaß lebenslange Erfahrung darin, wie man es einem Kranken behaglich machen kann, doch nicht einmal die saubere Umgebung, die frisch gewechselte Kleidung und die duftenden Rauchfahnen, die von Weihrauchtellern aufstiegen, konnten den üblen Geruch ihrer Krankheit
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