Medicus 01 - Der Medicus
überdecken.
Die Knochen schienen ihre durchscheinende Haut zu durchbohren. Ihr Gesicht war wächsern, ihr Haar spärlich und weiß. Ihr Mann war vielleicht der bedeutendste Arzt der Welt, aber sie war eine alte Frau im Endstadium einer Knochenkrankheit. Große bubos waren auf ihren mageren Armen und Unterschenkeln zu sehen. Ihre Gelenke und Füße waren infolge der angesammelten Flüssigkeit geschwollen. Ihre rechte Hüfte war weitgehend zerstört, und Rob wußte, daß er, wenn er ihr Nachtgewand hob, weitere fortgeschrittene Geschwüre finden würde, die sich über ihren Körper ausgebreitet hatten. Auch war dem Geruch nach sicher, daß sie auf ihre Eingeweide übergegriffen hatten. Ibn Sina hatte ihn kaum kommen lassen, damit er eine schreckliche, eindeutige Diagnose bestätigte. Rob wußte jetzt, was von ihm erwartet wurde. Er ergriff ihre zarten Hände und sprach leise auf sie ein. Er ließ sich mehr Zeit als notwendig und blickte in ihre Augen, die einen Moment klar waren.
»Da'ud?« flüsterte sie, und ihr Griff um seine Hände wurde stärker. Rob sah Ibn Sina fragend an. »So hieß ihr Bruder, der seit vielen Jahren tot ist.« Die Leere kehrte in ihre Augen zurück, ihre Finger erschlafften. Rob legte ihre Hände auf die Pritsche zurück, und sie verließen den Turm. »Wie lange noch?«
»Nicht mehr lange, Hakim-hashi . Es ist nur eine Frage von Tagen.« Rob war unbeholfen; der andere war um so vieles älter als er, daß er unmöglich die üblichen Beileidsbezeugungen äußern konnte. »Gibt es denn nichts, was man für sie tun kann?«
Ibn Sina verzog den Mund. »Ich kann ihr meine Liebe nur mit immer stärkeren Infusionen beweisen.« Er führte seinen Studenten zur Haustür und dankte ihm, dann kehrte er zu seiner kranken Frau zurück. »Herr«, sprach da jemand Rob an.
Als er sich umdrehte, sah er den riesigen Eunuchen, der zur Bewachung der zweiten Frau diente. »Wollt Ihr mir bitte folgen?« Sie gingen durch eine Tür in der Gartenmauer, deren Öffnung so klein war, daß sich beide bücken mußten, und kamen vor dem Südturm in einen anderen Garten. »Was gibt es?« fragte er den Sklaven kurz.
Der Eunuch antwortete nicht. Aber Robs Blick wurde von etwas angezogen, und er schaute dorthin, wo ein verschleiertes Gesicht durch ein kleines Fenster auf ihn herunterstarrte. Als ihre Blicke einander trafen, verschwand sie mit flatternden Schleiern, und das Fenster war leer.
Rob wandte sich an den Sklaven, und der Eunuch hob lächelnd die Schultern.
»Sie befahl mir, Euch hierher zu bringen. Sie wünschte Euch zu sehen, Herr.«
An diesem Abend studierte Rob gerade das Besitzrecht, als er das Klappern von Hufen hörte, die die Straße herunterkamen und vor seiner Tür hielten. Es klopfte.
Er griff nach seinem Schwert, da er an Diebe dachte. Für einen Besuch war es viel zu spät. »Wer ist draußen?«
»Wasif, Herr.«
Rob kannte keinen Wasif, aber er erkannte die Stimme. Er hielt die Waffe bereit, öffnete die Tür und sah, daß er recht gehabt hatte. Es war der Eunuch, der die Zügel eines Esels hielt. »Wurdest du vom hakim geschickt?«
»Nein, Herr. Ich wurde von ihr geschickt, die wünscht, daß Ihr kommt.«
»Warte«, befahl Rob grob und schloß die Tür.
Er trat hinaus, nachdem er sich hastig gewaschen hatte, stieg ohne Sattel auf den braunen Wallach, ritt hinter dem riesigen Sklaven durch die dunklen Straßen und bog in die Gasse ein, deren tiefer Staub das Hufgeklapper dämpfte. Dann kamen sie auf ein Feld, das hinter der Mauer von Ibn Sinas Besitz endete. Der Eunuch öffnete das Tor zum Turm, verneigte sich und ließ Rob allein weitergehen. Als Rob das oberste Stockwerk erreicht hatte, befand er sich im geräumigen Harem.
Im Lampenlicht sah er, daß sie auf einem großen Lager mit Kissen wartete: eine Perserin, die sich für die Liebe geschmückt hatte. Hände, Füße und ihr Geschlechtsteil waren rot mit Henna geschminkt und glatt vor Öl. Ihre Brüste waren für Rob eine Enttäuschung, sie waren kaum gewölbter als die eines Jungen. Er hob ihren Schleier.
Sie hatte schwarzes Haar, das ebenfalls mit Öl getränkt und straff an ihrem runden Kopf zurückgekämmt war. Zu Robs Verwunderung war Ibn Sinas zweite Frau ein bezauberndes junges Mädchen mit zitterndem Mund, den sie jetzt nervös mit einer kurzen Bewegung ihrer rosa Zunge befeuchtete. Sie hatte ein herzförmiges, liebreizendes Gesicht mit spitzem Kinn und einer kurzen, geraden Nase. Im dünnwandigen rechten Nasenflügel hing ein
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