Medicus 01 - Der Medicus
kleiner Metallring, gerade groß genug für den kleinen Finger eines Mannes.
Er lebte schon zu lange in diesem Land: Ihre unverschleierten Gesichtszüge wirkten auf ihn erregender als ihr rasierter Körper. »Warum heißt du Despina die Häßliche?«
»Das hat Ibn Sina angeordnet. Um den bösen Blick abzuwehren«, erklärte sie, während er neben ihr auf das Lager sank.
Am nächsten Nachmittag im maristan folgte Rob al-Juzjani durch die Räume und blieb mit den anderen am Strohsack eines mageren, kleinen Jungen namens Bilãl stehen. In der Nähe saß ein Bauer mit stumpfem, resigniertem Blick.
»Eine Krankheit des Leibes«, sagte al-Juzjani. »Ein Beispiel dafür, wie eine Kolik die Seele aussaugen kann.
Wie alt ist er?« Eingeschüchtert, aber geschmeichelt, weil er angesprochen wurde, senkte der Vater den Kopf.
»Er ist im neunten Lebensjahr, Herr.«
»Und wie lange krank?«
»Zwei Wochen. Es ist die Seitenkrankheit. Sie hat schon zwei seiner Onkel und meinen Vater umgebracht.
Schreckliche Schmerzen. Sie kommen und gehen. Aber vor drei Tagen ist der Schmerz gekommen und nicht wieder vergangen.«
Der Pfleger, der sich unterwürfig an al-Juzjani wandte und es zweifellos gern gesehen hätte, wenn sie weitergegangen wären, sagte, daß das Kind nur Scherbetts aus gesüßten Säften erhalten habe. »Alles, was er schluckt, spuckt oder scheißt er wieder aus.« Al-Juzjani nickte. »Untersuch ihn, Jesse!«
Rob schlug die Decke zurück. Der Junge hatte eine Narbe unter dem Kinn, die aber vollkommen verheilt war und in keinem Zusammenhang mit seiner Krankheit stand. Er legte eine Handfläche auf die schmale Wange, und Bilãl versuchte, sich zu bewegen, hatte aber nicht genug Kraft dazu. Rob streichelte seine Schulter. »Heiß.«
Er strich langsam mit den Fingerspitzen über den Körper des Jungen. Als er zum Bauch kam, schrie der Knabe auf. »Der Bauch ist links weich und rechts hart.«
»Allah hat versucht, die Körperseite, in der sich die Krankheit festgesetzt hat, zu schützen«, erklärte al-Juzjani.
Rob ging mit seinen Fingerspitzen so sanft wie möglich vor, um das Gebiet des Schmerzes vom Nabel ausgehend auf der rechten Bauchhälfte abzugrenzen. Der Junge tat ihm leid, weil er ihm jedesmal, wenn er auf den Bauch drückte, Qualen verursachte. Er drehte Bilãl um, und sie sahen, daß der After rot und entzündet war.
Rob legte die Decke wieder an ihren Platz, ergriff die kleinen Hände und hörte wieder den alten, schwarzen Ritter lachen. »Wird er sterben, Herr?« fragte der Vater sachlich. »Ja«, antwortete Rob, und der Mann nickte.
Niemand lächelte über Robs Diagnose. Seit sie aus Schiras zurückgekehrt waren, hatten Mirdin und Karim entsprechende Geschichten erzählt, die sich herumgesprochen hatten. Rob bemerkte, daß jetzt niemand mehr höhnisch johlte, wenn er behauptete, daß jemand sterben würde.
»Aelius Cornelius Celsus hat die Seitenkrankheit in seinen Schriften beschrieben, man sollte das lesen«, sagte Hakim al-Juzjani und wandte sich dem nächsten Strohsack zu.
Als der letzte Patient versorgt war, ging Rob zum Haus der Weisheit und bat Jussuf-al-Gamal, herauszusuchen, was der Römer über die Seitenkrankheit geschrieben hat. Es faszinierte ihn, daß Celsus die Leichen der Toten geöffnet hatte, um sein Wissen zu vervollkommnen. Doch man wußte nicht viel über dieses besondere Leiden, das Celsus als eine Krankheit im Dickdarm in der Nähe des Blinddarms beschrieb, die von einer heftigen Entzündung und von Schmerzen auf der rechten Bauchseite begleitet wird.
Als Rob das Kapitel gelesen hatte, kehrte er zu Bilãls Bett zurück. Der Vater war fort. Ein strenger mullah beugte sich wie ein großer Rabe über den Knaben und sprach Verse aus dem Qu'ran , während das Kind auf seine schwarze Kleidung starrte.
Rob schob den Strohsack so, daß der Kleine den mullah nicht mehr anblicken mußte. Auf einem niedrigen Tisch hatte der Pfleger drei Granatäpfel zurückgelassen, die bei der Abendmahlzeit gegessen werden sollten. Rob ergriff sie und schleuderte sie nacheinander in die Luft, bis sie von einer Hand über seinen Kopf zur anderen flogen, genau wie in alten Zeiten. Er war natürlich nicht mehr geübt, aber mit nur drei Gegenständen hatte er keine Schwierigkeiten, und so vollführte er mit den Früchten ein paar Tricks.
Die Augen des Knaben wurden so rund wie die fliegenden Granatäpfel.
»Jetzt brauchen wir nur noch eine Melodie!«
Er kannte kein persisches Lied, aber er wollte
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