Medicus 01 - Der Medicus
gestrigen Abend?«
»Um mich auf den chatir vorzubereiten.«
»Was ist der chatir ?«
»Ein Wettlauf.«
Karim schlüpfte aus dem Haus. Man hörte das Schlapp-schlapp-schlapp, als er zu laufen begann, ein immer schwächer werdendes Geräusch, das bald verstummte.
Ein Ausritt aufs Land
»Der chatir ist unser nationaler Wettlauf, ein alljährlich stattfindendes Ereignis, das beinahe so alt ist wie Persien«, erklärte Karim Rob. »Er wird abgehalten, um das Ende des ramadan zu feiern, des religiösen Fastenmonats. Ursprünglich - so weit zurück in den Nebeln der Zeit, daß wir den Namen des Königs vergessen haben, der den ersten Lauf veranstaltet hat - war er ein Wettbewerb, um den chatir , das hieß den Läufer des Schahs, zu bestimmen, doch im Lauf der Jahrhunderte hat er die besten Läufer Persiens und anderer Länder nach Isfahan geführt und den Charakter einer großen Lustbarkeit angenommen.« Der Wettlauf begann bei den Toren des Hauses des Paradieses, führte zehneinhalb römische Meilen lang durch die Straßen von Isfahan und endete bei einer Reihe von Pfosten im Hof des Palastes. An den Pfosten waren Schlingen befestigt, von denen jede zwölf Pfeile enthielt und einem bestimmten Läufer zugeteilt war. Jedesmal, wenn ein Läufer die Pfosten erreichte, nahm er einen Pfeil aus der Schlinge und steckte ihn in einen Köcher auf seinem Rücken, dann lief er wieder eine Runde.
Traditionsgemäß begann der Wettlauf mit dem Ruf zum ersten Gebet. Er stellte eine mörderische Belastungsprobe dar. Wenn der Tag heiß und drückend war, wurde der letzte Läufer, der überhaupt noch im Rennen war, zum Sieger erklärt. Rannten sie bei kühlem Wetter, vollendeten die Teilnehmer manchmal die vollen zwölf Runden, also einhundertsechsundzwanzig römische Meilen, und nahmen sich den letzten Pfeil irgendwann nach dem fünften Gebet. Obwohl es hieß, daß früher die Läufer bessere Zeiten erzielt hätten, liefen die meisten die Strecke in ungefähr vierzehn Stunden.
»Seit Menschengedenken kann sich niemand daran erinnern, daß ein Läufer die Strecke in weniger als dreizehn Stunden geschafft hat«, erzählte Karim. »Alã Shahansha hat verkündet, daß derjenige, der sie in zwölf Stunden oder weniger zurücklegt, einen großartigen calãt erhält. Außerdem gewinnt er eine Prämie von fünfhundert Goldstücken und die ehrenamtliche Ernennung zum Hauptmann der chatirs , was eine stattliche jährliche Zuwendung bedeutet.«
»Deshalb also hast du dich so angestrengt und bist jeden Tag so weit gelaufen? Du glaubst, du kannst dieses Rennen gewinnen?« Karim zuckte mit den Achseln. »Jeder Läufer träumt davon, den chatir zu gewinnen. Natürlich möchte ich den Lauf um den calãt gewinnen. Nur eines scheint mir besser als Medicus zu sein - und das ist, ein reicher Medicus in Isfahan zu sein.«
Das Wetter schlug um, und die Luft wurde so feucht und mild, daß sie Robs Haut liebkoste, als er das Haus verließ. Die ganze Welt war jung, und der Zajandeh, der Fluß des Lebens, toste seit der Schneeschmelze Tag und Nacht. In London war der April neblig, aber in Isfahan war der Monat Shaban milder und schöner als der englische Mai. Die vernachlässigten Aprikosenbäume hinter Robs kleinem Haus blühten in überwältigender weißer Pracht, als eines Morgens Khuff vor seiner Tür hielt und ihm die Nachricht überbrachte, daß Alã Shahansha an diesem Tag bei einem Ausritt seine Gesellschaft wünsche.
Rob hatte Bedenken, seine Zeit mit dem launischen Monarchen zu verbringen, und er war überrascht, daß der Schah sich an sein Versprechen erinnert hatte, sie würden zusammen ausreiten. Im Stall des Hauses des Paradieses wurde ihm bedeutet, er möge warten. Er geduldete sich eine beträchtliche Weile. Schließlich kam Alã mit einem so großen Gefolge, daß Rob nicht mehr aus dem Staunen kam. »Nun, Dhimmi .«
»Majestät.«
Alã Shahansha brach den ravi zemin ungeduldig ab, und sie schwangen sich rasch in den Sattel. Sie ritten tief in das Hügelland, der Schah auf einem weißen arabischen Hengst, der mühelos dahinzufliegen schien, während Rob hinter ihm herritt. Dann legte der Schah einen leichten Galopp vor und winkte Rob neben sich. »Du bist ein ausgezeichneter Arzt, weil du das Reiten verordnest, Jesse. Ich bin im Sumpf des Hofes versunken. Ist es nicht angenehm, fern von den Menschen zu sein?«
»So ist es, Majestät.«
Rob warf einen Augenblick später verstohlen einen Blick zurück. Weit hinter ihnen kam der gesamte
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