Medicus 01 - Der Medicus
fremden Wörtern umgehen wie du«, sagte sie. »Ich habe Jahre gebraucht, um Englisch zu lernen, und mußte arbeiten wie eine Sklavin, um halbwegs Latein zu beherrschen. Werden wir nicht bald dorthin ziehen, wo ich mein heimisches Gälisch hören kann?«
»Wenn die Zeit dazu gekommen ist«, antwortete er, verlor aber kein Wort darüber, wann das sein würde.
Mirdin nahm es auf sich, durchzusetzen, daß Jesse ben Benjamin von den Bewohnern der Jehuddijeh wieder akzeptiert wurde.
»Seit König Salomon - nein, schon vor Salomon - haben Juden nichtjüdische Frauen genommen und sind innerhalb der jüdischen Gemeinde geblieben. Es waren immer Männer, die durch ihr tägliches Leben gezeigt haben, daß sie weiter an ihrem Glauben festhielten.« Auf Mirdins Vorschlag machten er und Rob es sich zur Gewohnheit, zweimal täglich zum Gebet in der Jehuddijeh zusammenzutreffen: am Morgen zum schacharit in der kleinen Synagoge, die Haus des Friedens hieß, und am Tagesende zum ma'ariw in der Zion-Synagoge nahe Mirdins Wohnung. Rob empfand dies nicht als lästige Pflicht. Da ihm die Sprache immer vertrauter wurde, vergaß er, daß er die Synagoge als Teil seiner Tarnung aufsuchte, und er hatte manchmal das Gefühl, daß auch hier seine Gedanken Gott erreichten. Er betete nicht als Jesse der Jude oder als Rob der Christ, sondern als einer, der Verständnis und Trost suchte.
Allmählich sahen ihn die Leute immer seltener empört an, und schließlich beachtete man ihn nicht mehr. Die Monate vergingen, und die Bewohner der Jehuddijeh gewöhnten sich an den Anblick des großen englischen Juden, der mit einer duftenden Zitrone in der Hand während des Erntefestes Sukkot im Haus des Friedens Palmzweige schwenkte, zu Jom Kippur mit den anderen Gläubigen fastete, in der Prozession tanzte und den Rollen folgte, wenn die Übergabe der Thora an das Volk durch Gott gefeiert wurde. Jakob ben Rashi vertraute Mirdin an, es sei offensichtlich, daß Jesse ben Benjamin sich bemühe, seine unbesonnene Heirat mit einer ungläubigen Frau zu sühnen.
Mirdin war klug und kannte den Unterschied zwischen Tarnung und vollkommener Hingabe. »Ich verlange eines von dir«, erklärte er. »Du darfst niemals zulassen, daß du der zehnte Mann bist.« Rob verstand. Wenn Gläubige auf eine minyan, eine Versammlung von zehn Juden, warteten, die ihnen erlaubte, in der Öffentlichkeit eine Andacht zu verrichten, wäre es schrecklich gewesen, wenn er sie um semer Tarnung willen getäuscht hätte. Er gab Mirdin das Versprechen sofort und achtete immer darauf, es zu halten. Fast jeden Tag nahmen er und Mirdin sich Zeit, um die Gebote zu studieren. Sie benutzten dazu kein Buch. Mirdin kannte die Gebote als mündliche Überlieferung. »Man ist sich allgemein darüber einig, daß der Thora sechshundertdreizehn Gebote entnommen werden können«, lehrte er Rob. »Aber über deren genaue Form ist man sich nicht einig. Ein Gelehrter hält eine Vorschrift vielleicht für ein gesondertes Gebot, ein anderer Gelehrter kann es als Teil des vorangehenden Gebotes sehen. Ich lehre dich jene Version aller Gebote, die seit vielen Generationen in meiner Familie weitergegeben wird und die mich mein Vater, Reb Mulka Askar aus Masqat, gelehrt hat.« Mirdin sagte, daß zweihundertachtundvierzig Gebote positiv waren, die mitzvot, wie etwa die Vorschrift, daß ein Jude für Witwen und Waisen sorgen muß. Die restlichen waren negative Gebote wie zum Beispiel die Ermahnung, daß ein Jude keine Bestechung annehmen darf.
Rob bereitete es mehr Vergnügen, die mitzvot von Mirdin zu lernen, als die Studienfächer zu studieren, weil er wußte, daß er darin keine Prüfungen ablegen mußte. Es gefiel ihm, sich bei einem Becher Wein die jüdischen Gesetze anzuhören, und er stellte bald fest, daß solche Sitzungen ihm auch beim Studium des islamischen halfen. Er arbeitete härter denn je, genoß aber seine Tage. Es war das Jahr, in dem er den Galen studierte, und er vertiefte sich in die Beschreibungen anatomischer Phänomene, die er nicht sehen konnte, wenn er einen Patienten untersuchte: den Unterschied zwischen Arterien und Venen, den Puls und die Funktionen des Herzens, das während der Systole wie eine sich immer wieder zusammenpressende Faust Blut hinauspumpte, sich dann entspannte und während der Diastole wieder mit Blut füllte.
Er wurde von seinem Praktikum bei Jalal-al-Din abgezogen und von den Wundhaken, Kopplern und Seilen des Knocheneinrichters zu den Chirurgenbestecken versetzt,
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