Medicus 01 - Der Medicus
dir nicht den Rücken kehren.«
»Danke.«
»Jesse ben Benjamin ist nicht dein Name?«
»Nein. Mein wahrer Name ist...«
Doch Mirdin schüttelte warnend den Kopf und hob die Hand. »Der andere Name darf zwischen uns nicht genannt werden. Du mußt Jesse ben Benjamin bleiben.« Er sah Rob prüfend an. »Du bist mit der Jehuddijeh verschmolzen. Irgend etwas hat mich aber immer gestört. Ich nahm an, daß es daher kam, weil dein Vater ein europäischer Jude, ein Abtrünniger war, der sich von unseren Bräuchen abgewendet und sein Geburtsrecht nicht an seinen Sohn weitergegeben hat. Aber du mußt ständig wachsam bleiben, damit du keinen tödlichen Fehler begehst. Wenn man deine Täuschung entdeckt, würde sie eine schreckliche Verurteilung durch ein Gericht von mullahs heraufbeschwören, die zweifellos deinen Tod beschließen würden. Wenn du ertappt wirst, bringst du alle hiesigen Juden in Gefahr, auch wenn sie an deiner Täuschung keinen Anteil haben. In Persien kann es leicht geschehen, daß Unschuldige leiden müssen.«
»Und du, willst du ein solches Risiko eingehen?« fragte Rob leise. »Ich habe darüber nachgedacht. Ich muß dein Freund bleiben.«
»Ich freue mich darüber.«
Mirdin nickte. »Aber ich habe meinen Preis.«
Rob wartete.
»Du mußt verstehen, was zu sein du vorgibst. Um Jude zu sein, genügt es nicht, einen Kaftan anzuziehen und den Bart auf bestimmte Art zu tragen.«
»Wie soll ich dieses Verständnis erwerben?«
»Du mußt die Gebote Gottes studieren.«
»Ich kenne die Zehn Gebote.« Agnes Cole hatte sie jedem ihrer Kinder beigebracht.
Mirdin schüttelte den Kopf. »Diese zehn sind ein Bruchteil der Gebote, aus denen unsere Thora besteht. Die Thora enthält sechshundertdreizehn Gebote. Diese mußt du studieren - zusammen mit dem Talmud, den Kommentaren, die sich mit jedem Gebot befassen. Nur dann wirst du die Seele meines Volkes erkennen.«
»Mirdin, das ist schlimmer als der fiqh . Ich werde an Gelehrsamkeit ersticken«, klagte er verzweifelt.
Mirdins Augen glitzerten. »Das ist mein Preis.«
Rob sah, daß er es ernst meinte. Er seufzte. »Hol dich der Teufel! In Ordnung.«
Nun lächelte Mirdin zum erstenmal an diesem Abend. Er schenkte Wein ein, übersah den europäischen Tisch und die Stühle, setzte sich auf den Boden und blieb mit untergeschlagenen Beinen sitzen. »Also, beginnen wir!
Das erste Gebot lautet: >Du sollst fruchtbar sein und dich vermehren !<«
Rob war so froh, Mirdins freundliches, schlichtes Gesicht wieder in seinem Hause zu sehen. »Ich versuche es, Mirdin«, sagte er grinsend. »Ich gebe mein Bestes.«
Jesse wird geformt
»Sie heißt Mary wie die Mutter Jesu«, erklärte Mirdin seiner Frau in ihrer Sprache.
»Sie heißt Fara«, erklärte Rob Mary auf Englisch.
Die beiden Frauen musterten einander.
Mirdin hatte Fara zu Besuch mitgebracht, zusammen mit ihren braunhäutigen kleinen Jungen David und Issachar. Die Frauen konnten sich nicht miteinander unterhalten, weil sie keine gemeinsame Sprache hatten.
Dennoch verständigten sie sich bald kichernd durch Handzeichen, verdrehte Augen und protestierende Ausrufe.
Vielleicht wurde Fara vor allem auf Wunsch ihres Mannes Marys Freundin, aber die beiden in jeder Hinsicht verschiedenen Frauen achteten und schätzten einander von Anfang an.
Fara zeigte Mary, wie sie ihr langes, rotes Haar aufstecken und mit einem Tuch bedecken solle, bevor sie das Haus verließ. Einige jüdische Frauen trugen Schleier nach Art der Mohammedanerinnen, aber viele bedeckten einfach ihr Haar, und durch diese einfache Maßnahme wurde auch Mary unauffälliger. Fara führte sie zu Marktständen, bei denen die Waren und das Fleisch frisch waren, und sie machte Mary darauf aufmerksam, welche Händler sie besser meiden solle. Fara lehrte sie, das Fleisch koscher zu machen, indem sie es einweichte und salzte, um überschüssiges Blut zu entfernen, und wie sie Fleisch, gemahlenen Paprika, Knoblauch, Lorbeerblätter und Salz in einen zugedeckten irdenen Topf legen solle, auf den dann heiße Kohlen gehäuft wurden, so daß er den ganzen shabhat langsam kochte und würzig und zart wurde: ein köstliches Gericht, das shalent hieß und zu Robs Lieblingsessen wurde.
»Ach, ich würde so gern mit ihr sprechen, ihr Fragen stellen und ihr verschiedenes erzählen!« sagte Mary zu Rob. »Ich werde dir Unterricht in ihrer Sprache erteilen.« Aber sie wollte nichts von der Sprache der Juden und der der Perser hören. »Ich kann nicht so gewandt mit
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