Medicus 01 - Der Medicus
erreichten.
»So hoch in den Norden bin ich noch nie gereist«, sagte der Bader. »Ein paar Stunden von hier ist Northumbria zu Ende, und wir kommen an die Grenze. Jenseits von ihr liegt Schottland, ein Land von Schaffickern, wie jeder weiß, und gefährlich für jeden anständigen Engländer.« Eine Woche lang lagerten sie in Carlisle und besuchten jeden Abend die Kneipe. Hier erfuhr der Bader dank wohlüberlegt spendierter Drinks bald, wo es eine Unterkunft gab. Er mietete ein Haus auf der Heide mit drei kleinen Räumen. Es war ein ähnliches Haus wie das an der Südküste, aber zu seinem Missfallen besaß es keinen offenen Kamin und keinen gemauerten Schornstein. Sie breiteten ihr Bettzeug zu beiden Seiten des Herdes aus, als wäre er ein Lagerfeuer, und fanden in der Nähe einen Stall, wo sie Tatus unterbrachten. Auch diesmal kaufte der Bader reichliche Vorräte für den Winter ein und sparte dabei nicht, so dass Rob staunte und sich wohlfühlen konnte. Der Bader pökelte Rind- und Schweinefleisch ein. Er hatte auch daran gedacht, eine Rehkeule zu kaufen, aber drei Jäger, die Wildbret verkauft hatten, waren im Sommer in Carlisle gehängt worden, weil sie Hirsche des Königs getötet hatten, die für den Jagdsport der Adeligen bestimmt waren. Also kauften sie statt dessen fünfzehn fette Hennen und einen Sack Futter.
»Die Hühner fallen in deinen Aufgabenbereich«, erklärte der Bader Rob. »Du hast sie zu füttern, zu schlachten, wenn ich es anordne, zu rupfen und für meinen Topf herzurichten.«
Rob hatte jetzt braunen Flaum im Gesicht, ein Bart war es eigentlich noch nicht. Der Bader meinte, dass nur Dänen sich rasierten, aber Rob wusste, dass es gelogen war, denn sein Vater hatte keinen Bart getragen. Unter des Baders chirurgischen Geräten befand sich ein Rasiermesser, und der dicke Mann nickte widerwillig, als Rob es benützen wollte. Er schnitt sich zwar öfter, aber das Rasieren gab ihm das Gefühl, älter zu sein.
Als der Bader ihm das erste Mal befahl, ein Huhn zu schlachten, kam er sich dagegen sehr jung vor. Der Vogel starrte ihn aus kleinen, schwarzen Perlenaugen an, als wolle er sagen, dass sie vielleicht Freunde geworden wären. Schließlich zwang er sich, mit seinen kräftigen Fingern den warmen Hals zu umklammern, und schloss schaudernd die Augen. Ein heftig drehender Ruck, und es war geschehen. Aber der Vogel rächte sich noch im Tod, denn er gab seine Federn nicht leicht her. Rob rupfte stundenlang, und der Bader blickte den zerschundenen Körper verächtlich an, als Rob ihn ihm überreichte. Als das nächste Mal ein Huhn benötigt wurde, zeigte der Bader Rob ein echtes Zauberkunststück. Er hielt den Schnabel der Henne auf und schob ein dünnes Messer durch den Gaumen ins Gehirn. Die Henne entspannte sich im Augenblick des Todes und gab ihre Federn frei; sie lösten sich schon beim leichtesten Ziehen in großen Büscheln. »Merk dir die Lehre«, sagte der Bader. »Es ist genauso leicht, einen Menschen zu töten, und ich habe es schon getan. Wesentlich schwieriger ist es, das Leben zu erhalten, noch schwieriger, die Gesundheit zu bewahren. Das sind die Aufgaben, die wir im Auge behalten müssen.« Das Wetter im Spätherbst war ideal für das Kräutersammeln, und sie durchstreiften die Wälder und Heideflächen. Der Bader suchte vor allem nach Portulak; wenn man ihn in Spezificum tauchte, gab es einen Wirkstoff frei, der das Fieber senkte und es verschwinden ließ. Zu seiner Enttäuschung suchte er umsonst. Anderes ließ sich leichter finden, zum Beispiel Blütenblätter wilder Rosen für Umschläge, und Thymian und Eicheln, die zerrieben, mit Fett vermischt und auf Pusteln im Nacken geschmiert wurden. Manche Heilmittel erforderten harte Arbeit, wie das Ausgraben von Eibenwurzeln, die schwangeren Frauen halfen, ihren Foetus nicht zu verlieren. Sie sammelten Zitronenkraut und Dill gegen Schwierigkeiten beim Harnlassen, Sumpfschwertlilien zur Bekämpfung des Gedächtnisschwundes infolge von nassen und kalten Körpersäften, Wacholderbeeren, die gekocht wurden, um verstopfte Nasengänge freizumachen. Lupinen für heiße Packungen, um Abszesse zum Reifen zu bringen, und Myrte sowie Käsepappel, um juckende Hautausschläge zu behandeln. »Du bist schneller gewachsen als das Unkraut«, bemerkte der Bader schmerzlich, aber es stimmte: Rob war schon fast so groß wie sein Meister und längst aus der Kleidung herausgewachsen, die Editha Lipton in Exmouth für ihn geschneidert hatte. Als der Bader
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