Medicus 01 - Der Medicus
untersuchte sie dann vorsichtig und gründlich und zog mit einer eisernen Pinzette kleine Splitter heraus. »Es sind die Splitter von dem Holzstück, das ihm in die Hand eingedrungen ist, verstehst du?« Er zeigte sie dem Vater. Der Junge stöhnte. Rob fühlte Übelkeit aufsteigen, doch er hielt ihn weiter fest, während der Bader langsam und vorsichtig zu Werke ging. »Wir müssen alle entfernen«, erklärte er, »denn sie enthalten verderbliche Säfte, die die Hand wieder brandig machen.« Als er überzeugt war, dass sich kein Holzsplitter mehr in der Wunde befand, goss er etwas Spezificum hinein und verband sie mit einem Tuch. Dann trank er den Rest der Flasche selbst. Der schluchzende Patient schlich davon und war froh, dass er sie verlassen konnte, während sein Vater bezahlte.
Als nächster war ein gebeugter alter Mann mit hohlem Husten an der Reihe. Rob führte ihn hinter den Wandschirm.
»Morgenschleim. Oh, eine große Menge, Sir!« Er keuchte, wenn er sprach.
Der Bader strich mit der Hand nachdenklich über die eingefallene Brust. »Ich werde dich schröpfen.« Er sah Rob an. »Hilf ihm, sich teilweise freizumachen, damit man an seiner Brust Schröpfköpfe ansetzen kann.«
Rob zog dem alten Mann vorsichtig das Unterhemd aus, denn er wirkte gebrechlich. Um den Patienten wieder zum Bader hinzudrehen, ergriff er beide Hände des Mannes. Es war, als fasse er zwei zitternde Vögel. Die steifen Finger lagen in den seinen und übermittelten ihm eine Botschaft.
Der Bader warf ihnen einen Blick zu und merkte, wie der Junge erstarrte. »Komm!« forderte er ihn ungeduldig auf. »Wir dürfen nicht den ganzen Tag herumtrödeln.« Rob schien ihn nicht zu hören. Schon zweimal hatte Rob gespürt, wie diese seltsame, unangenehme Gewissheit aus dem Körper eines anderen in den seinen gedrungen war. Auch jetzt wurde er von Entsetzen überwältigt. Er ließ die Hände des Kranken fallen und floh.
Fluchend suchte der Bader seinen Lehrling, bis er ihn fand: Er kauerte hinter einem Baum.
»Ich will den Grund hören. Und zwar sofort!«
»Er... der Alte wird sterben.«
Der Bader machte große Augen. »Was ist das für ein ausgewachsener Unsinn?«
Sein Lehrling begann zu weinen.
»Hör damit auf!« herrschte der Bader ihn an. »Woher willst du das wissen?«
Rob versuchte zu sprechen, brachte aber keinen Ton hervor. Der Bader versetzte ihm eine Ohrfeige, und Rob schnappte nach Luft. Als er zu sprechen begann, sprudelten die Worte aus ihm heraus, denn sie waren ihm immer wieder durch den Kopf gegangen, noch bevor sie London verlassen hatten. Er hatte den bevorstehenden Tod seiner Mutter gespürt, und er war eingetreten. Dann hatte er gewußt, dass sein Vater sterben würde, und er war gestorben.
»Du meine Güte«, sagte der Bader skeptisch, aber er hörte genau zu und beobachtete Rob dabei. »Du meinst also, dass du tatsächlich bei diesem alten Mann den Tod gefühlt hast?«
»Ja.« Er erwartete nicht, dass man ihm Glauben schenken würde.
»Wann?«
Er hob die Schultern. »Bald?«
Er nickte. Er konnte nur die trostlose Wahrheit sagen. In des Baders Augen sah er, dass der Mann das erkannte.
Der Bader zögerte, dann faßte er einen Entschluß: »Während ich uns die Leute vom Hals schaffe, belädst du den Wagen!« befahl er.
Sie verließen das Dorf langsam, aber sobald sie außer Sichtweite waren, fuhren sie so rasch, wie es die holprige Straße zuließ. Incitatus stampfte spritzend und geräuschvoll durch die Furt des Flusses und vertrieb aufgescheuchte Schafe, deren ängstliches Blöken beinahe das Geschrei des erzürnten Schäfers übertönte.
Rob erlebte zum erstenmal, dass der Bader dem Pferd die Peitsche gab. »Warum beeilen wir uns so?« rief er, während er sich festklammerte. »Weißt du, was sie mit Hexenmeistern machen?« Der Bader musste schreien, um das Trommeln der Hufe und das Klappern der Dinge im Wagen zu übertönen. Rob schüttelte den Kopf.
»Sie knüpfen sie an einem Baum auf oder nageln sie an ein Kreuz. Manchmal tauchen sie Verdächtige in deiner verdammten Themse unter, und wenn sie ertrinken, erklärt man sie für unschuldig. Wenn der alte Mann stirbt, werden sie behaupten, es kommt daher, dass wir Hexer sind«, brüllte er und schlug mit der Peitsche immer wieder auf den Rücken des entsetzten Pferdes ein.
Sie hielten nicht an, um zu essen oder ihre Notdurft zu verrichten. Als sie Tatus erlaubten, in Schritt zu fallen, lag Hereford schon weit hinter ihnen, aber sie trieben das arme Tier
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