Medicus 01 - Der Medicus
vor meinen Augen befand. Da kam Master Merlins Hand in mein Gesichtsfeld. Sie hielt eine Klinge, die größer wurde, je näher sie mir kam, bis sie in mein Auge schnitt. Oh, der Schmerz machte mich sofort nüchtern! Ich war davon überzeugt, dass er mein ganzes Auge herausgeschnitten hatte, statt nur die Trübung zu entfernen, und ich schrie ihn an, beschwor ihn, mir nicht mehr Schaden zuzufügen. Als er unbeirrt'weiterarbeitete, schleuderte ich ihm Flüche an den Kopf und schrie, dass ich nun endlich verstehe, wie sein verfluchtes Volk unseren gütigen Herrn hat töten können. Als er in das zweite Auge schnitt, war der Schmerz so groß, dass ich das Bewusstsein verlor.
Ich erwachte im Dunkel mit verbundenen Augen und litt fast zwei Wochen lang schrecklich. Aber schließlich konnte ich sehen, was mir ja seit langer Zeit nicht mehr möglich gewesen war. Die Besserung meiner Sehkraft war so groß, dass ich zwei volle Jahre als Schreiber arbeitete, bevor mein Rheuma es angebracht erscheinen ließ, meine Tätigkeit einzuschränken.«
Es ist also wahr! dachte Rob verwirrt. Dann entsprachen wohl auch die anderen Dinge, die Benjamin Merlin ihm erzählt hatte, der Wahrheit.
»Master Merlin ist der tüchtigste Medicus, den ich je gesehen habe«, sagte Edgar Thorpe. »Allerdings«, fügte er ärgerlich hinzu, »scheint auch ein so ausgezeichneter Medicus auf unüberwindbare Schwierigkeiten zu stoßen, wenn er meine Knochen und Gelenke von diesen großen Beschwerden befreien will.«
Er kehrte nach Tettenhall zurück, schlug sein Lager in einem kleinen Tal auf und hielt sich drei Tage lang in der Nähe der Stadt auf wie ein liebeskranker Bauerntölpel, dem es an Mut fehlt, eine Frau aufzusuchen, der sich aber auch nicht dazu entschließen kann, sie in Frieden zu lassen. Der erste Bauer, bei dem er Vorräte kaufte, beschrieb ihm, wo Benjamin Merlin wohnte, und er lenkte die Stute mehrmals langsam an der Stelle vorbei, einem niedrigen Bauernhaus mit gut instand gehaltenem Schuppen und Nebengebäuden, einem Feld, einem Obstgarten und einem Weinberg. Nichts deutete darauf hin, dass hier ein Arzt lebte. Am Nachmittg des dritten Tages begegnete er, meilenweit von Merlins Haus entfernt, dem Medicus auf der Straße. »Wie geht's Euch, junger Bader?«
Rob antwortete, es gehe ihm gut, und erkundigte sich nach der Gesundheit des Arztes. Sie sprachen vorerst einmal vom Wetter, dann nickte Merlin verabschiedend. »Ich kann mich nicht länger aufhalten, denn ich muss noch einige Kranke besuchen, bevor mein Tagewerk beendet ist.«
»Darf ich Euch begleiten und zusehen?« quetschte Rob hervor. Der Medicus zögerte. Er schien über das Ansinnen nicht erfreut zu sein. Aber er nickte, wenn auch etwas widerwillig. »Achtet aber darauf, mich dabei nicht zu stören!«
Der erste Patient wohnte nicht weit von der Stelle, an der sie einander kennengelernt hatten, in einem kleinen Haus bei einem Gänseteich. Es war Edwin Griffith, ein alter Mann mit einem hohlen Husten, und Rob erkannte sofort, dass er an einer fortgeschrittenen Brustkrankheit litt und bald sterben würde.
»Wie geht es Euch heute, Master Griffith?« fragte Merlin. Ein Hustenanfall erschütterte den alten Mann, dann keuchte er und seufzte. »Mein Zustand hat sich nicht verändert, und ich will mich nicht beklagen, nur dass ich heute nicht imstande war, meine Gänse zu füttern.«
Merlin lächelte. »Unser junger Freund könnte sich vielleicht darum kümmern«, schlug er vor, und Rob blieb nichts übrig, als zuzustimmen. Der alte Griffith erklärte ihm, wo das Futter aufbewahrt wurde, und bald eilte Rob mit einem Sack zum Teich. Er ärgerte sich, denn dieser Krankenbesuch brachte ihn nicht weiter, da Merlin bei einem Sterbenden sicherlich nicht allzu viel Zeit verbringen würde. Er näherte sich den Gänsen vorsichtig, denn er wusste, wie bösartig sie sein konnten, aber sie waren hungrig und liefen zielstrebig mit lautem Geschnatter auf das Futter zu, so dass er sich rasch zurückziehen konnte.
Als Rob das Häuschen wieder betrat, sprach Merlin zu seiner Überraschung noch immer mit Edwin Griffith. Rob hatte noch nie einen Medicus gesehen, der so bedächtig arbeitete. Merlin stellte endlos Fragen über die Lebensgewohnheiten und die Ernährung des Mannes, über seine Kindheit, über seine Eltern und seine Großeltern, und woran sie gestorben waren. Er fühlte ihm den Puls am Handgelenk und auch an der Halsschlagader, und er legte ihm das Ohr an die Brust und horchte. Rob
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