Medicus 01 - Der Medicus
nickte, doch zuerst gab er dem Bauern, der zitternd und infolge des qualvollen Schmerzes schluchzte, einen vollen Becher Schnaps.
»Gib mir noch einen!« keuchte Osbern.
Als er den zweiten Becher geleert hatte, ergriff Rob das Bein, wie es Merlin getan hatte. Er vermied sorgfältig einen plötzlichen Ruck, übte gleichmäßigen Druck aus, und Osberns tiefe Stimme stieg zu einem schrillen, langen Schrei an.
Merlin hatte den großen Mann unter den Armen gepackt und zog in die andere Richtung, sein Gesicht war verzerrt, und seine Augen quollen vor Anstrengung hervor.
»Wir kriegen es hin«, rief Rob, damit Merlin ihn trotz der Schmerzensschreie hören konnte. »Es bewegt sich!«
Noch während er sprach, kratzten die Enden des gebrochenen Knochens übereinander und rasteten ein.
Der Mann im Bett war plötzlich still. Rob sah nach, ob er ohnmächtig geworden war, aber Osbern lag mit tränenüberströmtern Gesicht schlaff, doch bei vollem Bewusstsein vor ihm.
»Behaltet den Zug auf das Bein bei!« drängte Merlin. Er fertigte aus Stoffetzen eine Schlinge an und befestigte sie um Osberns Fuß und Knöchel. Nun knüpfte er das Ende eines weiteren Fetzens an die Schlinge und das andere Ende straff an den Türgriff. An dem gestreckten Bein brachte er dann die Schiene an. »Jetzt könnt Ihr ihn loslassen«, sagte er zu Rob.
Zur Sicherheit banden sie das gesunde Bein an das geschiente. Innerhalb von Minuten hatten sie den eingeschnürten, erschöpften Patienten beruhigt. Sie hinterließen seiner blassen Frau Anweisungen und verabschiedeten sich von seinem Bruder, der sich um den Hof kümmern wollte.
Draußen blieben sie stehen und sahen einander an. Ihre Hemden waren vollkommen durchgeschwitzt, und ihre Gesichter waren genauso naß wie Osberns tränenüberströmte Wangen. Der Arzt lächelte und schlug Rob auf die Schulter. »Ihr müßt jetzt mit mir nach Hause kommen und mit uns zu Abend essen«, sagte er.
»Meine Deborah«, stellte Benjamin Merlin seine Frau vor. Sie war rundlich, hatte eine Figur wie eine Taube, eine spitze, kleine Nase und sehr rote Wangen. Die Frau des Medicus war blaß geworden, als sie Rob sah, und verbeugte sich bei der Vorstellung steif. Merlin trug eine Schüssel Brunnenwasser in den Hof, damit Rob sich erfrischen konnte. Während er sich wusch, hörte er, wie die Frau im Haus ihren Mann in einer Sprache zur Rede stellte, die er noch nie gehört hatte.
Der Arzt verzog das Gesicht, als er herauskam, um sich zu waschen. »Ihr müßt ihr verzeihen. Sie hat Angst. Das Gesetz besagt, dass wir während der heiligen Feste keine Christen im Haus haben dürfen. Es handelt sich aber kaum um ein heiliges Fest. Es ist ein einfaches Abendessen.« Er blickte Rob ruhig an, während er sich abtrocknete. »Aber ich kann Euch, wenn Ihr nicht am Tisch sitzen wollt, das Essen herausbringen.«
»Ich bin dankbar, wenn ich mich zu Euch setzen darf, Meister Medicus.«
Merlin nickte.
Ein merkwürdiges Abendessen. Die Eltern und vier kleine Kinder, drei davon Söhne, saßen am Tisch. Das kleine Mädchen hieß Lea, und ihre Brüder waren Jonathan, Ruel und Zacharias. Die Jungen und ihr Vater trugen bei Tisch Käppchen. Als die Frau einen heißen Laib Brot hereinbrachte, nickte Merlin Zacharias zu, der ein Stück abbrach und in jener gutturalen Sprache zu reden begann, die Rob zuvor gehört hatte.
Sein Vater unterbrach ihn. »Heute wird die broche aus Höflichkeit unserem Gast gegenüber auf englisch gesprochen.«
»Sei gesegnet, o Herr, unser Gott, König der Welt«, begann der Junge sanft, »der das Brot aus der Erde hervorbringt.« Er reichte den Laib Rob, dem das Brot schmeckte und der ihn den anderen weitergab.
Merlin schenkte aus einer Karaffe roten Wein ein. Rob hob wie die anderen seinen Becher, als der Vater Ruel zunickte.
»Sei gesegnet, o Herr, unser Gott, König der Welt. Der Du die Frucht des Weines erschaffst.«
Die Mahlzeit bestand aus einer mit Milch gekochten Fischsuppe; sie schmeckte nicht so wie beim Bader, war aber heiß und schmackhaft.
Danach aßen sie Äpfel aus dem Obstgarten des Juden. Der jüngste Sohn, Jonathan, erzählte seinem Vater sehr empört, dass Kaninchen ihren Kohl fraßen.
»Dann müßt eben ihr die Kaninchen essen«, meinte Rob. »Ihr müsst ihnen Fallen stellen, damit eure Mutter ein wohlschmeckendes Stew bereiten kann.«
Eine merkwürdige, kurze Stille folgte, dann lächelte Merlin. »Wir essen weder Kaninchen noch Hasen, denn sie sind nicht koscher .«
Merlins Frau
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