Medicus 01 - Der Medicus
gearbeitet. Die Leute, die herbeiströmten, wussten nicht, dass bisher ein älterer Mann das Zeichen gegeben hatte, mit dem Jonglieren zu beginnen und aufzuhören, und die besten Geschichten hatte erzählen können. Sie standen herum, hörten zu, lachten, sahen staunend, wie Rob Gesichter zeichnete, kauften sein Spezificum und warteten in der Schlange, um hinter dem Wandschirm behandelt zu werden. Als Rob die Hände seiner Patienten ergriff, entdeckte er, dass die Gabe wieder vorhanden war. Ein stämmiger Schmied, der aussah, als könne er Bäume ausreißen, trug eine Krankheit in sich, die an seinem Leben zehrte; er würde nicht mehr lang leben. Ein mageres Mädchen dagegen, dessen schwächliches Aussehen eine schwere Krankheit vermuten ließ, besaß eine Fülle an Kraft und Lebenswillen, die Rob mit Freude erfüllten. Er verließ Stafford am Nachmittag, hielt bei einem Bauernhaus, um Speck zu kaufen, und sah die Stallkatze mit einem Wurf von Kätzchen. »Sucht Euch eines aus«, forderte ihn der Bauer hoffnungsvoll auf. »Ich muss die meisten ertränken, denn sie brauchen zuviel Futter.« Rob spielte mit den Kätzchen, indem er ein Stück Schnur vor ihrer Nase hin und her baumeln ließ, und sie waren alle entzückend bis auf ein selbstbewusstes weißes Kätzchen, das sich stolz und überlegen verhielt.
»Du willst wohl nicht mit mir kommen, was?« Das Kätzchen blieb gelassen und anmutig, aber als er es hochheben wollte, zerkratzte es ihm die Hand.
»Das da nehme ich«, entschied er und bedankte sich beim Bauern.
Am nächsten Morgen kochte er sich ein Frühstück, die Katze fütterte er mit in Milch getunktem Brot. Als er in ihre grünlichen Augen schaute, erkannte er darin die typische Katzenschläue, und er lächelte. »Ich werde dich Mistress Buffington nennen«, erklärte er ihr. Vielleicht hatte das Füttern den Zauberbann gebrochen. Nach wenigen Stunden lag sie schnurrend in seinem Schoß, als er auf dem Kutschbock saß.
Am späten Vormittag setzte er die Katze neben sich auf die Bank. Sie kamen nach Tettenhall, und während er um die Straßenbiegung fuhr, sah er einen Mann sich über eine Frau beugen, die auf der Straße lag.
»Was fehlt ihr?« rief er und hielt das Pferd an. Sie atmete heftig, ihr Gesicht war vor Anstrengung gerötet, und sie hatte einen riesigen Bauch.
»Es ist soweit«, erklärte der Mann.
In dem Obstgarten hinter ihm stand ein halbes Dutzend Körbe voll Äpfel. Der Mann trug nur Lumpen am Leib und schien nicht viel zu besitzen. Rob nahm an, dass er ein Kleinbauer war, der auf einem Gut für den Grundbesitzer arbeitete und dafür ein kleines Lehen erhalten hatte, das er für seine Familie bewirtschaften konnte.
»Wir waren mitten in der Apfelernte, als die Wehen einsetzten. Sie wollte nach Hause gehen, hat es aber nicht geschafft. Es gibt keine Hebamme im Ort, denn die unsere ist im Frühjahr gestorben. Ich habe einen Jungen nach dem Medicus geschickt, als es deutlich wurde, dass es ihr schlecht geht.«
»Also dann«, sagte Rob und ergriff die Zügel. Er wollte weiterfahren, denn es handelte sich hier um genau jenen Fall, vor dem ihn der Bader gewarnt hatte und den er vermeiden sollte: Wenn er der Frau helfen konnte, würde er nur eine geringe Bezahlung erhalten, wenn er aber versagte, würde man ihm vielleicht die Schuld an den Folgen geben.
»Es dauert schon viel zu lang«, sagte der Mann verbittert, »und der Medicus kommt noch immer nicht. Es ist ein jüdischer Arzt.«
Noch während der Mann sprach, verdrehte die Frau die Augen und verfiel in Krämpfe.
Nach des Baders Erzählungen über jüdische Ärzte hielt Rob es für wahrscheinlich, dass der Geburtshelfer überhaupt nicht kam. Der stumme Jammer in den Augen des Kleinbauern rührte ihn und weckte Erinnerungen, die er gern vergessen hätte.
Seufzend kletterte er vom Wagen. Er kniete neben der schmutzigen, erschöpften Frau nieder und ergriff die Hände. »Wann hat sie zum letztenmal gespürt, dass sich das Kind in ihrem Leib regt?«
»Das ist Wochen her. Seit vierzehn Tagen fühlt sie sich unwohl, als wäre sie vergiftet.« Sie habe vorher schon vier Schwangerschaften gehabt, daheim warteten zwei Jungen, aber die letzten beiden Kinder seien Totgeburten gewesen.
Rob spürte, dass auch dieses Kind tot war. Er legte die Hand leicht auf den aufgetriebenen Bauch und wünschte sich sehnlich, weit weg zu sein. Aber er sah im Geist Mas kalkweißes Gesicht vor sich, wie sie auf dem Stallboden voller Mist gelegen hatte, und er
Weitere Kostenlose Bücher