Medicus 01 - Der Medicus
wirkte besorgt, als befürchte sie, dass er ihre Bräuche nicht verstehen oder nicht billigen würde.
»Es handelt sich um uralte Speisegesetze.« Merlin erklärte, dass Juden Tiere, die ihr Futter nicht wiederkäuen und nicht gespaltene Hufe haben, nicht essen dürfen. Sie können auch Fleisch nicht zusammen mit Milch essen, denn die Bibel lehrt, dass ein Lamm nicht in der Milch seiner Mutter gekocht werden darf. Und sie dürfen kein Blut trinken und kein Fleisch essen, das nicht gründlich ausgeblutet und gesalzen worden ist.
Rob erschauerte, und er sagte sich, dass Mistress Merlin recht gehabt hatte: Er konnte die Juden nicht verstehen.
Juden waren wirklich Heiden! Sein Magen verkrampfte sich, während der Medicus Gott für das blut- und fleischlose Essen der Familie dankte.
Trotzdem fragte Rob, ob er diese Nacht in ihrem Obstgarten lagern dürfe. Benjamin Merlin bestand jedoch darauf, dass er in einem gedeckten Raum schlief: in der an das Haus angebauten Scheune. Nun lag Rob auf duftendem Stroh und lauschte durch die dünne Wand der scharfen Stimme der Frau. Er lächelte in der Dunkelheit, denn er wusste trotz der unverständlichen Sprache, worum es ging. Du kennst den jungen Rohling nicht und bringst ihn dennoch hierher. Siehst du nicht die verbogene Nase, das zerschlagene Gesicht und die teuren Waffen eines Verbrechers? Er wird uns im Bett ermorden!
Dann kam Merlin mit einer großen Flasche und zwei Holzbechern in die Scheune. Er reichte Rob einen Becher und seufzte. »Sie ist sonst eine wunderbare Frau.« Er schenkte ein. »Das Leben hier ist schwer für sie, denn sie fühlt sich von vielen, die ihr teuer sind, abgeschnitten.«
Es war ein gutes, starkes Getränk. »Aus welchem Teil von Frankreich stammt Ihr?«
»Wie dieser Wein, den wir trinken, kommen meine Frau und ich aus dem Dorf Falaise, wo unsere Familien unter dem gütigen Schutz von Robert aus der Normandie leben. Mein Vater und zwei Brüder sind Weinhändler und liefern nach England.« Vor sieben Jahren, erzählte Merlin, sei er nach Falaise zurückgekehrt, nachdem er in Persien auf einer Akademie für Ärzte studiert hatte.
»In Persien?« Rob hatte keine Ahnung, wo sich Persien befand, aber er wusste, dass es weit weg war. »In welcher Richtung liegt Persien?« Merlin lächelte. »Es liegt im Osten. Weit im Osten.«
»Und wie kamt Ihr nach England?«
Nachdem er als frischgebackener Arzt in die Normandie zurückgekehrt war, stellte Merlin fest, dass es innerhalb der Schutzherrschaft von Herzog Robert zu viele Ärzte gab. Außerhalb der Normandie gab es unaufhörlich Kämpfe, und die wechselnden Gefahren von Krieg und Politik, Herzog gegen Graf, Adelige gegen den König.
»In meiner Jugend war ich mit meinem Vater, dem Weinhändler, zweimal in London gewesen. Ich erinnerte mich an die Schönheiten der englischen Landschaft, und in ganz Europa war König Knuts Beständigkeit bekannt. Also beschloss ich, diese grüne, friedliche Insel aufzusuchen.«
»Und hat sich Tettenhall als gute Wahl erwiesen?« Merlin nickte. »Aber es gibt Schwierigkeiten. Ohne die Menschen unseres Glaubens können wir nicht ordentlich zu Gott beten, und es ist schwierig, die Speisegesetze einzuhalten. Wir sprechen zwar mit unseren Kindern in unserer Sprache, aber sie denken in der Sprache Englands, und trotz unserer Bemühungen kennen sie viele Bräuche ihres Volkes nicht. Ich versuche ständig, andere Juden aus Frankreich hierher zu locken.«
Er wollte wieder einschenken, doch Rob bedeckte seinen Becher mit der Hand. »Ich vertrage nicht viel und brauche einen klaren Kopf.«
»Warum habt Ihr mich aufgesucht, junger Bader?«
»Erzählt mir von der Schule in Persien!«
»Sie befindet sich in der Stadt Isfahan, im westlichen Teil des Landes.«
»Warum seid Ihr so weit gereist?«
»Wohin denn sollte ich reisen? Meine Familie wollte mich nicht zu einem Medicus in die Lehre geben, denn es arbeiten - auch wenn mich das Eingeständnis schmerzt - in ganz Europa beinahe nur jämmerliche Schmarotzer und Spitzbuben in meinem Beruf. Es gibt ein großes Krankenhaus in Paris, das Hotel Dieu, doch dies ist nur ein Pesthaus für die Armen, in das schreiende Menschen geschleppt werden, um dort zu sterben. Dann gibt es eine medizinische Schule in Salerno; eine traurige Stätte! Durch andere jüdische Kaufleute wusste mein Vater, dass in den Ländern des Ostens die Araber aus der Wissenschaft der Medizin eine Kunst gemacht haben. Die Mohammedaner besitzen in Isfahan ein
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