Medicus 01 - Der Medicus
Es gab keinen freien Sitzplatz, und so lehnte er sich an die Wand.
Von Zeit zu Zeit kam ein Mann durch die kleine Tür, die ins Innere des Hauses führte, und holte den Patienten, der jeweils am Ende der ersten Bank saß. Dann rückte jeder um einen Platz vor. Es schien fünf Ärzte zu geben.
Vier waren jung, der fünfte war ein kleiner Mann mittleren Alters, der sich schnell bewegte. Rob nahm an, dass das Adolescentoli war.
Als Rob endlich auf dem ersten Platz der vordersten Bank saß, war der halbe Nachmittag vergangen. Einer der jungen Männer kam heraus. »Ihr könnt mit mir kommen.« Er sprach mit französischem Akzent. »Ich möchte Isaak Adolescentoli sprechen.«
»Ich bin Moses ben Abraham, ein Schüler von Meister Adolescentoli. Ich bin imstande, Euch zu behandeln.«
»Ich bin sicher, dass Ihr mich gut behandeln würdet, wenn ich krank wäre. Ich muss Euren Meister in einer anderen Angelegenheit sprechen.«
Der Schüler nickte und wandte sich an die nächste Person auf der Bank. Nach einer Weile kam Adolescentoli heraus und führte Rob durch die Tür und einen kurzen Korridor entlang; durch eine offenstehende Tür an der linken Seite sah Rob in ein Sprechzimmer mit einem Operationstisch, mit Eimern und Instrumenten. Sie kamen in einen kleinen unmöblierten Raum, der nur einen Tisch und zwei Stühle enthielt. »Was für Beschwerden habt Ihr?« fragte Adolescentoli und hörte etwas überrascht zu, als Rob, statt Symptome zu beschreiben, nervös von seinem Wunsch sprach, Medizin zu studieren.
Auf dem dunklen, gutaussehenden Gesicht des Arztes zeigte sich kein Lächeln. Zweifellos hätte das Gespräch anders geendet, wenn Rob klüger gewesen wäre, doch er konnte nicht anders, er musste eine Frage stellen: »Lebt Ihr schon lange in England, Meister Medicus?«
»Warum fragt Ihr danach?«
»Ihr sprecht unsere Sprache so gut.«
»Ich bin in diesem Hause zur Welt gekommen«, antwortete Adolescentoli ruhig. »Im Jahre 70 wurden nach der Zerstörung des großen Tempels fünf junge jüdische Gefangene von Titus aus Jerusalem nach Rom gebracht.
Man nannte sie adolescentoli , das lateinische Wort für >die Jungen<. Ich stamme von einem dieser Jungen ab, von Joseph Adolescentoli. Er erlangte die Freiheit, indem er in die Zweite Römische Legion eintrat, mit der er auf diese Insel kam, als deren Einwohner dunkle, kleine Bootsleute waren, die schwarzen Silurer, die ersten, die sich Briten nannten. Lebt Eure Familie auch schon so lange in England?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ihr sprecht die Sprache recht gut«, meinte Adolescentoli seidenweich. Rob erzählte ihm von seiner Begegnung mit Merlin und erwähnte nur, dass sie über die medizinische Ausbildung gesprochen hatten. »Habt Ihr auch bei dem großen persischen Arzt in Isfahan studiert?« Adolescentoli schüttelte den Kopf. »Ich habe die Universität von Bagdad besucht, eine größere medizinische Schule mit einer umfangreichen Bibliothek und Fakultät. Nur hatten wir natürlich nicht Avicenna, den sie Ibn Sina nennen.«
Sie sprachen über Adolescentolis Schüler. Drei waren Juden aus Frankreich und der vierte ein Jude aus Salerno.
»Meine Schüler haben mich Avicenna oder einem anderen Araber vorgezogen«, stellte Adolescentoli stolz fest.
»Ihnen steht natürlich keine solche Bibliothek zur Verfügung wie den Studenten in Bagdad, aber ich besitze das >Heilkundebuch< des Baldus, das die Heilmittel nach der Methode des Alexander von Tralles aufzählt und angibt, wie man Salben, Packungen und Pflaster herstellt. Meine Schüler müssen das Buch sehr aufmerksam studieren, auch gewisse lateinische Schriften des Paul von Aegina und einige Werke des Plinms. Und noch ehe ihre Lehrzeit zu Ende ist, weiß jeder, wie man zur Ader läßt, ausbrennt, Einschnitte in Adern legt und den grauen Star sticht.« Rob empfand ein überwältigendes Verlangen wie ein Mann, der eine Frau zu Gesicht bekommt, die er sofort besitzen möchte. »Ich wollte Euch bitten, mich als Lehrling aufzunehmen.«
Adolescentoli neigte den Kopf. »Ich habe mir gedacht, dass Ihr deshalb hier seid, aber ich werde Euch nicht nehmen.«
»Kann ich Euch nicht dazu überreden?«
»Nein. Ihr müßt einen christlichen Lehrer finden oder Bader bleiben«, erwiderte Adolescentoli nicht hart, aber entschieden. Vielleicht handelte er aus den gleichen Gründen wie Merlin, aber Rob erfuhr es nicht, denn der Medicus wollte nicht mehr sagen. Er erhob sich, ging zur Tür und nickte gleichgültig, als Rob den
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