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Medicus 02 - Der Schamane

Titel: Medicus 02 - Der Schamane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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gewesen, und obwohl der betrunkene Lern nichts gemerkt hatte, wussten sie doch, dass sie nur durch einen glücklichen Zufall unentdeckt geblieben waren. Sie lachten nur noch einmal miteinander, als Meggy trocken bemerkte, das Kondom müsse wohl von einem Widder stammen, und es Old Horny taufte, geiler alter Bock. Er machte sich Vorwürfe, weil er sie so häufig benutzte. Da ihm aufgefallen war, dass ihr Unterrock schon sehr fadenscheinig war, kaufte er ihr einen neuen - ein Geschenk des schlechten Gewissens. Sie freute sich sehr darüber, und er zeichnete sie in sein Tagebuch, wie sie auf seinem schmalen Bett lag, ein molliges Mädchen mit einem lächelnden Katzengesicht.
    Er sah vieles anders, das er gern gezeichnet hätte, wenn ihm sein Beruf die Kraft dafür gelassen hätte. In Edinburgh hatte er aus Widerstand gegen die auf den legendären Medicus zurückgehende Familientradition der Coles ein Kunststudium begonnen und davon geträumt, Maler zu werden, wofür ihn seine Familie auch geeignet hielt. In seinem dritten Studienjahr sagte man ihm jedoch, dass er zwar künstlerisches Talent habe, aber nicht genug. Er hafte zu sehr an der sichtbaren Wirklichkeit und ihm fehle der entscheidende Funken Phantasie, die Vision. »Sie haben die Flamme, aber Ihnen fehlt die Hitze«, hatte sein Professor für Porträtzeichnen nicht unfreundlich, aber unumwunden gesagt. Rob J. war am Boden zerstört gewesen, bis zwei Dinge sich ereigneten. In den staubigen Archiven der Universitätsbibliothek stieß er auf eine anatomische Zeichnung. Sie war sehr alt, vermutlich aus der Zeit vor Leonardo, ein nackter Männerkörper, von dem die obersten Gewebeschichten abgelöst waren, damit man die Organe und Blutgefäße sehen konnte. Die Zeichnung trug die Unterschrift: Der zweite durchsichtige Mensch, und mit freudigem Erschrecken sah Rob J., dass sie von einem seiner Vorfahren stammte, denn die Signatur lautete: Robert Jeffrey Cole, nach der Manier von Robert Jeremy Cole. Das war der Beweis, dass zumindest einige seiner Vorfahren sowohl Künstler wie Ärzte gewesen waren. Und zwei Tage später geriet er in einen Operationssaal und sah dort William Fergusson, den genialen Chirurgen, der mit absoluter Präzision und unglaublicher Geschwindigkeit arbeitete, um den Patienten so wenig Schmerzen wie möglich zuzufügen. Zum erstenmal verstand Rob J. die lange Ahnenreihe von Ärzten in seiner Familie, denn er erkannte, dass selbst die großartigste Leinwand nicht so kostbar sein konnte wie ein einziges menschliches Leben. Und in diesem Augenblick hatte er sich der Medizin verschrieben.
    Vom Beginn seiner Ausbildung an besaß er das, was sein Onkel Ranald, ein praktischer Arzt in der Nähe von Glasgow, die Gabe der Coles nannte, die Fähigkeit festzustellen, ob ein Patient leben oder sterben würde, einfach indem man dessen Hände hielt. Es war die Sensibilität eines Heilers, ein diagnostischer sechster Sinn, zum Teil Instinkt, zum Teil Intuition und zum Teil eine ererbte Wahrnehmung, ein genetisches Erbe, das niemand begreifen oder erklären konnte. Und diese Gabe funktionierte so lange, wie sie nicht durch ein Übermaß an Alkohol abgestumpft wurde. Für einen Arzt war sie ein wirkliches Gottesgeschenk, doch jetzt, in diesem fremden Land, verdüsterte sie Rob J.s Gemüt, denn im achten Distrikt gab es zu viele Menschen, die sterben mussten.
    Der von Gott verfluchte Distrikt, wie er ihn inzwischen nannte, beherrschte sein Leben. Die Iren waren mit den höchsten Erwartungen hier eingetroffen. Während in der alten Heimat ein Handlanger Sixpence pro Tag verdiente, wenn es Arbeit gab, herrschte in Boston weniger Arbeitslosigkeit, und die Handlanger verdienten mehr, mussten aber fünfzehn Stunden am Tag und alle sieben Tage der Woche schuften. Sie zahlten hohe Mieten für ihre Löcher, sie zahlten noch mehr für ihr Essen, und sie hatten keinen Garten, kein winziges Fleckchen Erde, auf dem sie mehlige Kartoffeln ziehen konnten, keine Kuh, die ihnen Milch gab, kein Schwein, das ihnen Schinken lieferte. Der Distrikt verfolgte Rob J. mit seiner Armut, seinem Dreck und seinen Bedürfnissen, was ihn eigentlich hätte lähmen müssen, ihn aber zur Arbeit antrieb, bis er sich vorkam wie ein Mistkäfer, der versucht, einen Berg aus Schafskot zu bewegen. Der Sonntag hätte eigentlich ihm gehören sollen als eine kurze Zeitspanne der Erholung von der abstumpfenden Arbeit der schrecklichen Woche. Sonntagvormittags bekam sogar Meg ein paar Stunden frei, damit sie

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