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Medicus 02 - Der Schamane

Titel: Medicus 02 - Der Schamane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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verrückt oder für einen Lügner erklären.
    »Lebt Ihr Vater noch?«
    »Nein, nein. Er wurde von einem durchgehenden Pferd getötet, als ich zwölf war.«
    »Ach.« Das war der Augenblick, in dem Holmes beschloss, trotz des relativ geringen Altersunterschieds die Rolle von Robs Vater zu übernehmen und ihm durch eine vorteilhafte Heirat Eintritt in den erlauchten Kreis der Bostoner Familien zu verschaffen. Bald darauf erhielt Rob J. zwei Einladungen in Holmes’ Haus in der Montgomery Street, wo er einen Lebensstil kennenlernte, der einst in Edinburgh auch für ihn angemessen gewesen wäre. Beim erstenmal stellte Amelia, die lebhafte, kupplerische Frau des Professors, ihm Paula Storrow vor, die aus einer alten und reichen Familie stammte, aber eine plumpe und schrecklich dumme Frau war. Beim zweiten Dinner hatte er Lydia Parkman zur Tischnachbarin. Sie war zwar zu dünn und besaß nicht einmal die Andeutung eines Busens, aber unter glatten, walnussbraunen Haaren verrieten ihr Gesicht und ihre Augen einen trockenen, schelmischen Humor, und die beiden verbrachten den Abend, indem sie sich witzig-herausfordernd, aber nicht ohne Tiefgang unterhielten. Sie wusste einiges über Indianer, doch sie sprachen vorwiegend über Musik, denn Lydia spielte Cembalo.
    Später an diesem Abend saß er in seiner Dachkammer über der Spring Lane auf dem Bett und malte sich aus, wie sein Leben in Boston aussehen könnte - als Kollege und Freund von Harry Loomis und Oliver Wendell Holmes und als Ehemann einer Gastgeberin, die einen von Geist und Witz geprägten Salon führte. Bald darauf hörte er das leise Klopfen, das er inzwischen gut kannte. Meg Holland schlüpfte in sein Zimmer. Die ist nicht zu dünn, dachte er, während er ihr zulächelte und sein Hemd aufknöpfte. Doch diesmal blieb Meggy auf der Bettkante sitzen und rührte sich nicht. Als sie endlich den Mund aufmachte, brachte sie nur ein leise geflüstertes Wort hervor, und ihr Tonfall traf ihn beinahe noch mehr als das Wort. Ihre Stimme klang spröde und leblos, wie trockenes Laub, das der Wind über den harten, kalten Boden weht. »Erwischt«, murmelte sie.

Träume
    »Ein Volltreffer«, sagte sie zu ihm.
    Er wusste nicht, was er erwidern sollte. Sie war nicht mehr unberührt gewesen, als sie zu ihm gekommen war, versuchte er sich einzureden. Woher sollte er wissen, ob es wirklich sein Kind war. Ich habe doch immer das Kondom benützt, protestierte er schweigend. Aber er musste zugeben, dass er es bei den ersten Malen nicht getragen hatte und in der Nacht, in der sie das Lachgas ausprobierten, ebenfalls nicht. Während seiner Ausbildung war ihm eingeschärft worden, nie jemanden zu einer Abtreibung zu ermutigen, und er hätte es ihr ohnedies nicht vorgeschlagen, da er wusste, wie bestimmend die Religion für sie war.
    Schließlich versprach er, zu ihr zu stehen. Er war doch nicht Stanley Finch!
    Sonderlich aufzurichten schien sie seine Erklärung nicht. Er zwang sich, sie in die Arme zu nehmen und an sich zu drücken. Er wollte zärtlich sein und sie trösten. Ausgerechnet in diesem Augenblick wurde ihm klar, dass ihr Katzengesicht in wenigen Jahren eher dem einer Kuh gleichen würde. Das war nicht das Gesicht seiner Träume. »Du bist Protestant.« Es war keine Frage, denn sie kannte die Antwort schon.
    »So wurde ich erzogen.«
    Sie war eine tapfere Frau. Die Tränen stiegen ihr erst in die Augen, als er ihr sagte, dass er unsicher sei über die Existenz Gottes.

    »Sie Charmeur, Sie Halunke! Lydia Parkman war von Ihrer Gesellschaft sehr angetan«, berichtete ihm Holmes am nächsten Abend im Institut und strahlte, als Rob J. erwiderte, dass er sie für eine außergewöhnlich liebenswürdige Frau halte. Holmes erwähnte beiläufig, dass Stephen Parkman, ihr Vater, Richter am Superior Court sei und Berater des Harvard College. Die Familie hatte mit dem Handel von Stockfisch begonnen, sich dann auf Weizen verlegt und kontrollierte inzwischen den ausgedehnten und lukrativen Handel mit in Fässern konservierten Lebensmitteln. »Werden Sie sie wiedersehen?« fragte Holmes. »Bald, da können Sie sicher sein«, sagte Rob J. mit schlechtem Gewissen und erlaubte sich nicht, daran zu denken.
    Holmes’ Theorien über die medizinische Hygiene hatten für Rob J. die ärztliche Praxis revolutioniert. Holmes erzählte ihm zwei Geschichten, die seine Thesen untermauerten. Die eine betraf die Skrofulöse, eine tuberkulöse Krankheit der Lymphdrüsen und der Gelenke. Im Mittelalter

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