Medicus 02 - Der Schamane
ich tun soll!« Rose Finn stand plötzlich neben ihm. Ihr Gesicht war aschfahl, doch es gelang ihr, die Arterie zu fassen und das Blut aufzuhalten. Rob J. sägte den Knochen durch, setzte noch ein paar schnelle Schnitte, und das Bein löste sich vom Körper. Jetzt konnte er die Arterie abbinden und die Hautlappen zusammennähen. Peter Finns Blick war inzwischen glasig vom Schock, und das einzige, was man noch von ihm hörte, war sein heiserer, stockender Atem.
Rob J. wickelte das Bein in ein schmutziges, zerschlissenes Handtuch und nahm es mit, um es später im anatomischen Institut zu untersuchen. Er war wie betäubt vor Erschöpfung, doch mehr, weil er sich bewusst war, welche Leiden er Peter Finn zugefügt hatte, als wegen des Kraftaufwands, den die Operation gekostet hatte. Seine blutverschmierten Kleider konnte er nicht reinigen, doch Hände und Arme wusch er sich an einem öffentlichen Brunnen, bevor er zu seiner nächsten Patientin ging, einer zweiundzwanzigjährigen Frau, von der er wusste, dass sie an Schwindsucht sterben würde.
Zu Hause in ihrem eigenen Viertel fristeten die Iren ein elendes Leben, außerhalb ihres Viertels jedoch wurden sie beschimpft. Rob J. sah die Plakate in den Straßen: Alle Katholiken und alle, die die katholische Kirche unterstützen, sind gemeine Betrüger, Lügner, Gauner und feige Halsabschneider. Ein wahrer Amerikaner. Einmal pro Woche besuchte er eine Medizinvorlesung im Hörsaal des Athenaeum an der Pearl Street. Manchmal saß er nach der Diskussion noch in der Bibliothek und las die »Boston Evening Transcript«, in der der Hass, der die Gesellschaft zerriss, seinen Niederschlag fand. Angesehene Geistliche wie Reverend Lyman Beecher von der Congregational Church an der Hanover Street schrieben unzählige Artikel über »die babylonische Hure« und »die stinkende Bestie des römisch-katholischen Glaubens«. Politische Parteien verherrlichten den im Land geborenen Amerikaner und zogen über »dreckige, unwissende irische und deutsche Einwanderer« her. Als er die überregionalen Zeitungen las, um mehr über Amerika zu erfahren, erkannte er, dass es eine habsüchtige Nation war, die mit beiden Händen nach neuem Land griff. Vor kurzem erst hatte sie Texas annektiert, durch einen Vertrag mit Großbritannien das Gebiet von Oregon erworben und wegen Kalifornien und des Südwestteils des Kontinents gegen Mexiko Krieg geführt. Die Grenze war der Mississippi, der die Zivilisation von der Wildnis trennte, in die man die Prärieindianer vertrieben hatte. Rob J. war fasziniert von Indianern. In seiner Kindheit hatte er die Romane von James Fenimore Cooper verschlungen. Er las alles, was es im Athenaeum über Indianer gab, und danach wandte er sich den Schriften Oliver Wendell Holmes’ zu. Sie gefielen ihm, vor allem das Porträt des zähen alten Überlebenskünstlers aus »The Last Leaf«. Aber Harry Loomis hatte recht, Holmes war besser als Arzt denn als Dichter, er war sogar ein vorzüglicher Arzt. Harry und Rob J. gewöhnten es sich an, den langen Tag mit einem Glas Ale in der Essex Tavern zu beenden, und Dr. Holmes gesellte sich oft zu ihnen. Es war offensichtlich, dass Harry der Lieblingsstudent des Professors war, und Rob fiel es schwer, ihn nicht zu beneiden. Die Familie Loomis hatte hervorragende Verbindungen, und eines Tages würden Harry genau jene Stellen in den Krankenhäusern offenstehen, die ihm eine befriedigende Karriere als Arzt in Boston ermöglichten. Als sie eines Abends wieder beim Bier zusammensaßen, bemerkte Holmes, er sei bei Recherchen in der Bibliothek auf die Begriffe »Colescher Kröpf« und »Colesche bösartige Cholera« gestoßen. Dadurch neugierig geworden, habe er die Literatur durchforstet und zahlreiche Hinweise auf die Beiträge der Familie Cole zur Medizin entdeckt, darunter die »Colesche Gicht« und das »Colesche und Palmersche Syndrom», eine Krankheit, bei der Ödeme mit heftigen Schweißausbrüchen und gurgelnder Atmung einhergingen. »Außerdem«, sagte er, »habe ich herausgefunden, dass über ein Dutzend Coles in Edinburgh und Glasgow Professoren der Medizin waren. Waren die alle Verwandte von Ihnen?« Rob J. grinste verlegen, aber geschmeichelt. »Ja. Lauter Verwandte. Aber die meisten Coles waren seit Jahrhunderten einfache Landärzte in den Hügeln des schottischen Tieflands wie mein Vater.« Die Gabe der Coles erwähnte er nicht. Sie war kein Thema, das er mit anderen Ärzten diskutierte, denn die würden ihn entweder für
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