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Medicus 02 - Der Schamane

Titel: Medicus 02 - Der Schamane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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herrschte in Europa der Glauben, die Berührung durch eine königliche Hand könne die Skrofulöse heilen. Die andere Geschichte betraf einen uralten Aberglauben, nach dem zur Heilung eines Soldaten dessen Wunden gesäubert und verbunden werden mussten, worauf die Waffe, die diese Wunde zugefügt hatte, mit einer Salbe - bestehend aus solchen Entsetzlichkeiten wie fauligem Fleisch, Menschenblut oder Moos vom Schädel eines Hingerichteten - einzuschmieren war. Beide Methoden seien weit verbreitet und sehr erfolgreich gewesen, berichtete Holmes, da beide unbeabsichtigt für die Sauberkeit des Patienten sorgten. Im ersten Fall wurden die skrofulösen Patienten vollständig und gründlich gewaschen, damit die königlichen »Heiler«, die ihnen die Hand auflegen sollten, sich nicht vor ihnen ekelten. Im zweiten Fall wurde zwar die Waffe mit Unrat beschmiert, die Wunden des Soldaten aber, die nur gesäubert und ansonsten in Ruhe gelassen wurden, konnten ohne Infektion verheilen. Das Magische, die geheime Ingredienz, war also die Hygiene.
    Im achten Distrikt war es schwierig, klinische Sauberkeit aufrechtzuerhalten. Rob J. hatte zwar Tücher und Kernseife in seiner Tasche, wusch sich oftmals am Tag die Hände und reinigte seine Instrumente, aber die Armut und ihre Folgen machten den Distrikt zu einem Ort, an dem die Gefahr, krank zu werden und zu sterben, groß war. Er versuchte, sich mit der alltäglichen ärztlichen Arbeit zu betäuben, doch wenn ihm dann wieder seine persönliche Notlage in den Sinn kam, fragte er sich, ob er nicht geradewegs auf seine Selbstzerstörung hinarbeite. In Schottland hatte er durch seine Einmischung in die Politik Verbindungen und Karriere geopfert, und hier in Amerika besiegelte er seinen Ruin mit dieser katastrophalen Schwangerschaft. Margaret Holland ging die Situation von der praktischen Seite an. Sie fragte ihn nach seinen Einkünften und war alles andere als bestürzt, als er ihr sein Jahresgehalt nannte - die dreihundertfünfzig Dollar schienen ihr mehr als ausreichend zu sein. Dann wollte sie etwas über seine Familie wissen.
    »Mein Vater ist tot. Meiner Mutter ging es sehr schlecht, als ich Schottland verließ, und ich bin mir sicher, dass sie inzwischen... Ich habe einen Bruder. Er bewirtschaftet den Familienbesitz in Kilmar-nock. Er züchtet Schafe. Ihm gehört das Anwesen.« Sie nickte. »Ich habe einen Bruder, der in Belfast lebt. Er ist Mitglied im Young Ireland und immer in Schwierigkeiten.« Ihre Mutter war tot, in Irland lebten noch der Vater und drei weitere Brüder, ein fünfter Bruder wohnte in Boston im Viertel am Fort Hill. Sie fragte schüchtern, ob sie ihrem Bruder nicht von Rob erzählen und ihn bitten solle, sich nach einem Zimmer für sie beide umzusehen, vielleicht in der Nähe seiner Wohnung.
    »Nicht jetzt schon. Dazu ist später noch genug Zeit«, sagte er und streichelte ihr aufmunternd die Wange. Die Vorstellung, im achten Distrikt wohnen zu müssen, entsetzte ihn. Er wusste, wenn er ein Arzt für die armen Einwanderer bleiben würde, konnte er nur in einem solchen Pferch das Überleben für sich, eine Frau und ein Kind sichern. Am nächsten Morgen betrachtete er den Distrikt mit Angst und Wut, und eine Verzweiflung wuchs in ihm, die der Hoffnungslosigkeit, die ihm überall in den armseligen Straßen und Gassen begegnete, in nichts nachstand.
    Er begann, nachts unruhig zu schlafen und schlecht zu träumen. Zwei Träume kehrten immer wieder. In besonders schlimmen Nächten hatte er beide. Danach lag er jedesmal wach und rief sich alle Einzelheiten genau ins Gedächtnis, bis er nicht mehr wusste, ob er wach war oder schlief:
    Früher Morgen. Graues Wetter, aber die Sonne bricht durch. Er steht unter einigen tausend Männern vor den Carron Iron Works, die großkalibrige Schiffskanonen für die englische Marine herstellen. Es fängt gut an. Ein Mann auf einer Kiste liest das Pamphlet, das Rob J. anonym verfasst hat, um die Männer zur Demonstration aufzurufen: »Freunde und Landsleute.’ Erwacht aus dem Zustand, in dem wir so viele Jahre gehalten wurden! Wir sehen uns nun angesichts unserer verzweifelten Lage und der Verachtung, mit der unsere Bittschriften gestraft wurden, gezwungen, unter Einsatz unseres Lebens für unsere Rechte zu kämpfen.« Der Mann spricht mit hoher und überschnappender Stimme, man merkt ihm an, dass er Angst hat. Am Ende wird er bejubelt. Drei Dudelsackpfeifer spielen, und die versammelte Menge singt beherzt, zuerst Kirchenlieder und

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