Medicus 02 - Der Schamane
und zu erhalten? Er schwor sich und Äskulap, dem Vater der Heilkunst, nie mehr wegen eines unterschiedlichen Glaubens den Tod eines Menschen zu verursachen, ja nie mehr aus Zorn einen Menschen auch nur zu schlagen, und wohl zum tausendstenmal fragte er sich, wie schwer es diesem Bruce Irgendwer gefallen sein musste, diese fünfzehn Pfund zu verdienen.
Die Farbe des Gemäldes
»Es ist nicht Ihr Geld, das Sie ausgeben!« sagte Mr. Wilson eines Morgens verdrossen, als er Rob J. seinen Stapel Patientenscheine gab. »Es ist das Geld, das angesehene Bürger der Dispensary gespendet haben. Und kein Arzt, der für uns arbeitet, darf dieses Geld nach eigenem Gutdünken verschwenden.«
»Ich habe Ihr Geld nicht verschwendet. Ich habe nie Patienten behandelt oder ihnen etwas verschrieben, die nicht wirklich krank waren und unsere Hilfe dringend nötig hatten. Ihr System ist nicht gut. Manchmal zwingt es mich dazu, jemanden mit einer Zerrung zu behandeln, während andere wegen mangelnder Fürsorge sterben.« »Sie überschreiten Ihre Befugnisse, Sir.« Mr. Wilsons Blick und seine Stimme waren ruhig, aber seine Hand mit den Scheinen zitterte. »Nehmen Sie zur Kenntnis, dass Sie in Zukunft Ihre Besuche auf die Namen auf den Scheinen, die Sie jeden Morgen von mir erhalten, beschränken müssen.«
Rob J. hätte Mr. Wilson zu gerne gesagt, was er zur Kenntnis nehme und was Mr. Wilson mit seinen Patientenscheinen tun könne. Aber angesichts der Komplikationen in seinem Leben wagte er es nicht. So zwang er sich dazu, nur zu nicken und sich abzuwenden. Mit den Scheinen in der Tasche machte er sich auf in den Distrikt.
An diesem Abend änderte sich alles. Margaret kam in seine Kammer und setzte sich auf die Bettkante, ihr Stammplatz für Neuigkeiten. »Ich blute.«
Er zwang sich, zuerst nur als Arzt zu denken. »Eine Hämorrhagie? Verlierst du große Mengen Blut?« Sie schüttelte den Kopf. »Zuerst war es ein bisschen mehr als sonst. Dann wie bei meiner normalen Blutung. Und jetzt ist es fast schon vorüber.«
»Wann hat es angefangen?«
»Vor vier Tagen.«
»Vor vier Tagen?« Warum hatte sie vier Tage gewartet, bis sie es ihm sagte? Sie sah ihn nicht an. Sie saß stocksteif da, als würde sie sich gegen seine Wut wappnen, und ihm wurde klar, dass sie die vier Tage lang mit sich selbst gekämpft hatte. »Wolltest es mir wohl überhaupt nicht sagen, mh?«
Sie antwortete nicht, doch er verstand. Obwohl er in ihren Augen ziemlich eigenartig war, ein ständig händewaschender Protestant, hatte sie in ihm doch eine Chance gesehen, dem Gefängnis ihrer Armut zu entkommen. Nachdem er selbst dieses Gefängnis aus der Nähe gesehen hatte, kam es ihm fast wie ein Wunder vor, dass sie sich überhaupt zu dem Geständnis durchgerungen hatte, und wurde nicht zornig, weil sie es hinausgezögert hatte, sondern empfand Bewunderung und überwältigende Dankbarkeit. Er ging zu ihr, zog sie hoch und küsste ihre geröteten Augen. Dann legte er seine Arme um sie, drückte sie an sich und strich ihr über den Kopf, als tröste er ein verängstigtes Kind.
Am folgenden Morgen ging er wie benommen durch die Straßen, seine Knie zitterten vor Erleichterung. Männer und Frauen lächelten, wenn er sie grüßte. Es war eine neue Welt mit einer helleren Sonne und einer milderen Luft zum Atmen.
Seine Patienten behandelte er mit der üblichen Aufmerksamkeit, aber zwischendurch rasten die Gedanken in seinem Kopf. Schließlich setzte er sich auf eine Holztreppe an der Broad Street und dachte über die Vergangenheit, die Gegenwart und seine Zukunft nach. Zum zweitenmal war er einem schlimmen Schicksal entronnen. Er empfand dies als eine Warnung, dass er mit seinem Leben achtsamer und respektvoller umgehen müsse.
Rob J. betrachtete sein Leben als ein großes, im Entstehen begriffenes Gemälde. Was immer auch passieren mochte, das fertige Bild würde bestimmt von der Medizin handeln, aber er spürte, wenn er in Boston blieb, würden Grautöne in diesem Gemälde vorherrschen. Amelia Holmes konnte für ihn eine »brillante Partie«, wie sie es nannte, arrangieren, aber nachdem er einer lieblosen Ehe in Armut entronnen war, hatte er keine Lust, auf eine lieblose Ehe in Reichtum zuzusteuern oder sich auf dem Heiratsmarkt der Bostoner Gesellschaft feilbieten zu lassen, als Arztfleisch sozusagen, das Pfund zu soundso viel.
Er wollte das Gemälde seines Lebens mit den kräftigsten Farben malen, die er finden konnte. An diesem Nachmittag ging er nach der Arbeit ins
Weitere Kostenlose Bücher