Medicus 02 - Der Schamane
Komponieren oder Kornettblasen keine zwei gesunden Füße.
Sowohl Ordway als auch Wilcox wurden zum Sergeanten befördert und mit ihnen eine ganze Anzahl von Männern, als Symonds seine Listen durchforstete, die Überlebenden vermerkte und die Dienstgrade der Gefallenen an sie verteilte. Das 119.Indiana hatte achtzehn Prozent seiner Soldaten verloren, was ein im Verhältnis zu den anderen Regimentern geringer Prozentsatz war. Ein Regiment aus Minnesota hatte sechsundachtzig Prozent seiner Männer verloren und war damit wie manches andere auch so gut wie ausgelöscht. Symonds und seine Stabsoffiziere verbrachten Tage damit, Überlebende der vernichteten Regimenter zu rekrutieren, und schließlich zählte das 119-Indiana wieder siebenhunderteinundsiebzig Mann. Sichtlich verlegen teilte Symonds Rob J. mit, dass er auch einen Regimentsarzt gefunden habe. Dr. Gardner Coppersmith war als Captain bei einer der inzwischen aufgelösten Pennsylvania-Einheiten gewesen, und Symonds konnte ihn mit einer Beförderung ködern. Der Arzt hatte sein Medizinstudium in Philadelphia abgeschlossen und nun zwei Jahre Felderfahrung. »Wenn Sie kein Zivilist wären, Doc Cole, würde ich auf der Stelle Sie zum Regimentsarzt machen«, sagte Symonds, »aber der Posten muss mit einem Offizier besetzt werden. Es ist Ihnen klar, dass Dr. Coppersmith Ihr Vorgesetzter sein und das Sagen haben wird?« Rob J. versicherte ihm, dass ihm das klar sei.
Für Rob J. war es ein komplizierter Krieg, der von einer komplizierten Nation geführt wurde. In der Zeitung las er, dass es bei der ersten Auslosung der Namen für die Aushebung Wehrpflichtiger in New York zu einem Aufstand gekommen war. Ein Mob von fünfzigtausend hauptsächlich irisch-katholischen Arbeitern setzte das Einberufungsbüro in Brand, legte Feuer in den Räumen der »New York Tribüne« und einem Waisenhaus für Schwarze, in dem sich zu diesem Zeitpunkt gottlob keine Kinder befanden. Sie gaben offenbar den Schwarzen die Schuld an dem Krieg und zogen durch die Straßen, schlugen und beraubten jeden dunkelhäutigen Menschen, den sie finden konnten, und ermordeten und lynchten tagelang Schwarze, bis der Aufruhr von Unionstruppen niedergeschlagen wurde, die gerade von den Kämpfen gegen die Südstaatler aus Gettysburg zurückgekommen waren. Der Vorfall bestürzte Rob J. tief. In Amerika geborene protestantische Christen verhöhnten und unterdrückten katholische Christen und Einwanderer, und Katholiken und Einwanderer verhöhnten und ermordeten Schwarze, als lebe jede Gruppe von ihrem Hass und brauche als Nährstoff das Knochenmark eines Schwächeren. Als Rob J. sich noch auf die amerikanische Staatsbürgerschaft vorbereitete, hatte er die Verfassung des Landes gelesen und sich über die Bestimmungen gewundert. Jetzt erkannte er, dass die Genialität derer, die diese Verfassung festschrieben, darin gelegen hatte, dass sie die Charakterschwächen der Menschen und den Fortbestand des Bösen in der Welt einkalkulierten und versuchten, die Freiheit des einzelnen zur gesetzlichen Realität zu machen, zu der diese Nation immer und immer wieder zurückkehren musste. Er war fasziniert von den Gründen, die Menschen dazu brachten, einander zu hassen, und er studierte Lanning Ordway, als sei der hinkende Sergeant ein Käfer unter seinem Mikroskop. Hätte Ordway nicht dann und wann Hass versprüht wie ein überlaufender Kessel und hätte Rob J. nicht gewusst, dass über zwölf Jahre zuvor in seinem eigenen Wald in Illinois ein grässliches, ungeahndetes Verbrechen begangen wurde, er hätte Ordway als einen der liebenswürdigeren jungen Männer des Regiments betrachtet. Jetzt sah er den Bahrenträger regelrecht aufblühen; wahrscheinlich bescherte Ordway sein Dienst in der Armee mehr Erfolg, als er jemals gehabt hatte. Im ganzen Regiment herrschte Hochstimmung. Die Kapelle des 119. Indiana zeigte Schmiss und Elan, als sie von Lazarett zu Lazarett zog und für die Verwundeten spielte. Der neue Kornettbläser war nicht so gut wie Thad Bushman, aber die Musiker spielten voller Stolz, weil sich während des Kampfgeschehens gezeigt hatte, dass auch sie gebraucht wurden.
»Wir sind miteinander durch die Hölle gegangen«, verkündete Wilcox eines Abends, als er zuviel getrunken hatte, feierlich und versuchte Rob J. mit seinen schielenden Augen zu fixieren. »Wir sind in den Rachen des Todes marschiert und wieder heraus und sind wie Wiesel durch das Tal der Schatten geflitzt. Wir haben der Bestie ins Auge
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