Medicus 02 - Der Schamane
Rob J. und seine drei Helfer liefen zu einer Wiese, wo ein halbes Dutzend Männer hinter einer efeubewachsenen Steinmauer kauerten und in den Wald feuerten. Auf dem ganzen Weg zur Mauer wartete Rob J., auf ein Geschoss, das sich in sein Fleisch bohrte. Die Luft schien dick wie Sirup zu sein und seine Nasenlöcher zu verstopfen. Er hatte das Gefühl, sich nur mit äußerster Anstrengung vorwärtskämpfen zu können, und seine Beine versagten ihm fast den Dienst. Den Soldaten hatte es an der Schulter erwischt. Die Kugel saß im Fleisch und musste herausgeholt werden - aber nicht unter Beschuss. Rob J. nahm eine Kompresse aus seinem mee-shome und verband die Wunde, um die Blutung zu stillen. Dann legten sie den Verwundeten auf die Bahre und machten sich in schnellem Tempo auf den Rückweg. Rob J. war sich bewusst, welch ausgezeichnete Zielscheibe sein breiter Rücken am Ende der Bahre darstellte. Er hörte jeden Schuss, der abgegeben wurde, und das Geräusch der Kugeln, die vorbeiflogen, durch das Gras zischten und sich schließlich ganz in ihrer Nähe in die Erde gruben.
Neben ihm stöhnte Amasa Decker. »Getroffen?« fragte Rob J. keuchend. »Nein.« Sie fielen in Laufschritt und erreichten - nach einer Ewigkeit, wie es ihnen vorkam - den flachen Schützengraben, in dem Major Coppersmith seine Sanitätsstation eingerichtet hatte.
Als sie den Verwundeten dem Arzt übergeben hatten, fielen die vier Träger ins Gras und schnappten nach Luft wie frisch gefangene Forellen.
»Diese Minies hörten sich an wie Bienen«, schnaufte Lucius Wagner.
»Ich dachte, unser letztes Stündlein habe geschlagen«, japste Amasa Decker. »Sie nicht, Doc?« »Ich hatte Angst, aber ich habe mich auf meinen Schutz verlassen.«
Rob J. zeigte ihnen das mee-shome und erklärte ihnen, dass die Riemen, die izze , ihn, wie die Sauks sagten, vor Verletzungen durch Geschosse schützen würden. Decker und Wagner hörten aufmerksam zu, Wagner leicht lächelnd.
Am Nachmittag wurde nur noch ganz vereinzelt geschossen. Beide Seiten hatten einen toten Punkt - bis zum Einbruch der Dämmerung, als zwei Brigaden der Union den Fluss überquerten und am 119. Regiment vorbei in dem einzigen Bajonettangriff vorstürmten, den Rob J. im Laufe des Krieges sehen sollte. Die Infanterie des 119. Regiments pflanzte ebenfalls die Bajonette auf und schloss sich dem Angriff an, dessen Überraschungsmoment und geballte Kraft es der Union ermöglichten, den Feind zu überrollen und mehrere tausend Konföderierte zu töten oder gefangenzunehmen. Die Verluste auf der Seite der Union waren leicht, doch Rob J. und seine Träger mussten vor Anbruch der Nacht noch ein halbes dutzendmal ausrücken. Die drei Soldaten waren zu der Überzeugung gelangt, dass Doc Cole und sein indianisches Medizinerbündel sie zu einer vom Glück begünstigten Mannschaft machten, und als sie zum siebtenmal heil zurückkamen, glaubte Rob J. genauso fest an die Macht seines mee-shome wie seine Leute. An jenem Abend, nachdem die Verwundeten versorgt waren, sah Gardner Coppersmith ihn im gemeinsamen Zelt mit leuchtenden Augen an. »Das war ein wahrhaft glorreicher Bajonettangriff, finden Sie nicht, Cole?«
Rob J. dachte eine Weile nach. »Es war wohl eher ein Gemetzel«, sagte er dann müde.
Der Regimentsarzt betrachtete ihn voller Abscheu. »Wenn Sie das so sehen, warum sind Sie dann hier?« »Weil hier die Patienten sind«, antwortete Rob J.
Dennoch beschloss er, das 119. Indiana Ende des Jahres zu verlassen. Es stimmte ja, dass hier die Patienten waren, die Hilfe brauchten, und er war zur Army gegangen, um sie medizinisch zu betreuen, doch Major Coppersmith war nicht bereit, ihm das zu gestatten. Ein erfahrener Arzt, der kaum mehr zu tun hatte, als eine Bahre zu tragen -das war in seinen Augen eine Verschwendung, und als Atheist sah er keinen Sinn darin, zu leben wie ein Märtyrer. Er wollte nach Hause zurückkehren, sobald sein Vertrag in der ersten Woche des Jahres 1864 auslief.
Der Weihnachtsabend verlief traurig und gleichzeitig bewegend. Vor den Zelten wurden Gottesdienste abgehalten. Auf der einen Seite des Rappahannock spielten die Musiker des 119. Indiana »Adeste Fidelis«, und als sie geendet hatten, intonierte am anderen Ufer die Konföderiertenkapelle »God Rest Ye Merry, Gentlemen«. Die Melodie wehte geisterhaft über das dunkle Wasser, und dann folgte »Silent Night«. Kapellmeister Fitts hob seinen Taktstock, und die Unionskapelle und die Konföderiertenmusiker spielten
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