Medicus 02 - Der Schamane
gemeinsam, und an beiden Ufern sangen die Soldaten mit. Sie konnten die Lagerfeuer des Gegners deutlich sehen.
Es wurde wirklich eine stille Nacht: Kein Schuss fiel. Als Festessen gab es zwar keinen Truthahn, doch die Army hatte für eine durchaus akzeptable Suppe gesorgt, die sogar Fleisch enthielt, das nach Rind schmeckte, und jeder Soldat des Regiments bekam einen Schluck Feiertagswhiskey. Das erwies sich als Fehler, denn der Schluck weckte den Durst nach mehr. Als das Konzert vorbei war, traf Rob J. Wilcox und Ordway, die vom Flussufer herauf wankten. Sie hatten dort einen Krug Fusel geleert, den sie von einem Händler erworben hatten. Wilcox stützte Ordway, war jedoch selbst nicht sicher auf den Beinen.
»Legen Sie sich schlafen, Abner!« sagte Rob J. zu ihm. »Ich bringe Ihren Kameraden zu seinem Zelt.« Wilcox nickte und entfernte sich schwankend, doch Rob J. tat nicht, was er angekündigt hatte. Vielmehr führte er Ordway von den Zelten weg und lehnte ihn an einen Felsen. »Lanny«, sagte er, »Lanny, mein Junge, lassen Sie uns reden! Ganz unter uns.«
Ordway schaute ihn aus halbgeschlossenen Augen mit leicht schielendem Blick an. »... fröhliche Weihnachten, Doc!«
»Fröhliche Weihnachten, Lanny! Reden wir über den >Order of the Star-Spangled Bannen Am 3. Januar, als Colonel Symonds mit einem neuen Vertrag zu ihm kam, beobachtete er Ordway, wie dieser seinen Rucksack sorgfältig mit frischen Kompressen und Morphiumtabletten füllte. Rob J. zögerte nur einen Moment. Dann kritzelte er seine Unterschrift auf das Papier, womit er sich für drei weitere Monate verpflichtete.
»Wann haben Sie Ellwood R. Patterson kennengelernt?«
Rob J. glaubte, bei der Befragung Ordways am Weihnachtsabend sehr behutsam und umsichtig vorgegangen zu sein. Das Ergebnis hatte seinen Eindruck von dem Mann und dem OSSB bestätigt. An den Zeltpfosten gelehnt, das Tagebuch auf den hochgezogenen Knien aufgeschlagen, schrieb er folgendes:
Lanning Ordway begann, bereits fünf Jahre ehe er das Wahlalter erreichte, zu Versammlungen der American Party in Vincennes zu gehen. Er fragte mich, wo ich beigetreten sei, und ich sagte: »In Boston.« Er wurde zu den Treffen von seinem Vater mitgenommen, »weil er wollte, dass ich ein guter Amerikaner werde«. Sein Vater, Nathanael Ordway, fand als Besenbinder sein Auskommen. Die Zusammenkünfte wurden im ersten Stock über einem Gasthaus abgehalten. Sie mussten durch die Gaststube zur Hintertür hinaus und dann eine Treppe hoch. Oben klopfte sein Vater auf die vereinbarte Weise an die Tür. Er erinnert sich, dass sein Vater immer stolz war, wenn der »Wächter des Tores« (!) sie nach einem Blick durch den Spion einließ, »weil wir gute Leute waren«. Ein Jahr lang ging Lanning manchmal, wenn sein Vater betrunken oder krank war, allein zu den Treffen. Als Nathanael Ordway starb (»am Suff und an Rippenfellentzündung«), ging Lanning nach Chicago und arbeitete dort in einem Saloon hinter dem Bahnhofsgelände in der Galena Street, wo ein Cousin seines Vaters Whiskey ausschenkte. Er wischte hinter Säufern auf, wenn sie sich übergaben, streute jeden Morgen frisches Sägemehl, putzte die langen Spiegel, polierte das Messinggeländer - was eben so anfiel.
Es war ganz selbstverständlich für ihn, eine Zelle der Nichtswisser-Partei in Chicago ausfindig zu machen. Es war, als setze er sich mit seiner Familie in Verbindung, denn er hatte mehr mit den Leuten von der American Party gemeinsam als mit dem Cousin seines Vaters. Ziel der Partei war es, öffentliche Ämter nur mit Leuten zu besetzen, die amerikanischen Arbeitern bei der Stellenvergabe den Vorzug vor Einwanderern gaben. Trotz seiner Gehbehinderung (nachdem ich mit ihm gesprochen und ihn lange beobachtet habe, glaube ich, dass er mit einem Hüftfehler geboren wurde) setzten ihn die Parteianhänger sehr bald ein, wenn sie jemanden brauchten, der jung genug für dringende Erledigungen war - und alt genug, um den Mund zu halten. Es erfüllte ihn mit großem Stolz, als er bereits im Alter von siebzehn Jahren in den »Supreme Order of the Star-Spangled Banner« aufgenommen wurde. Er vertraute mir an, dass dies auch ein Quell der Hoffnung für ihn gewesen sei, weil er das Gefühl gehabt habe, dass ein armer und verkrüppelter, als Amerikaner geborener Junge die
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