Medicus 02 - Der Schamane
Zahnarzt namens Morton, verspätet sich. Warren ist in höchstem Maße verärgert, nutzt aber die Verzögerung, um in allen Einzelheiten darzulegen, wie er einen großen Tumor aus der krebsbefallenen Zunge eines jungen Mannes namens Abbott entfernen wird, der bereits halb tot vor Angst auf dem roten Operationsstuhl sitzt. Nach fünfzehn Minuten gehen Warren die Worte aus, und er zieht missmutig seine Uhr aus der Tasche. Auf der Galerie hat man bereits zu kichern begonnen, als endlich der auf Abwege geratene Zahnarzt eintrifft. Morton verabreicht das Gas und erklärt kurze Zeit später, der Patient sei nun bereit. Dr. Warren nickt, immer noch wütend, rollt die Ärmel hoch und sucht sich ein Skalpell aus. Assistenten öffnen Abbott den Mund und ziehen die Zunge heraus. Andere drücken den Patienten auf den Operationsstuhl, damit er nicht um sich schlägt. Warren beugt sich über ihn und setzt mit einer blitzschnellen Bewegung den ersten tiefen Schnitt, der Blut aus Abbotts Mundwinkel quellen lässt. Der Patient rührt sich nicht.
Auf der Galerie herrscht absolutes Schweigen. Noch das leiseste Seufzen oder Aufstöhnen wäre zu hören. Darren macht sich wieder an die Arbeit. Er setzt einen zweiten Schnitt, dann einen dritten. Sorgfältig und schnell entfernt er den Tumor, kratzt die Wunde aus, vernäht sie und drückt einen Schwamm auf die Zunge, um die Blutung zu unterbinden.
Der Patient schläft. Der Patient schläft! Warren richtet sich auf. Auch wenn Sie es mir nicht glauben, Rob, aber die Augen dieses selbstherrlichen Zynikers waren feucht! »Gentlemen«, sagte er. »Das ist kein Humbug.« Die Entdeckung von Äther als Betäubungsmittel in der Chirurgie ist in der medizinischen Presse von Boston veröffentlicht worden. Unser Holmes, wie immer in vorderster Reihe mit dabei, hat bereits vorgeschlagen, die Anwendung »Anästhesie« zu nennen, nach dem griechischen Wort für Empfindungslosigkeit.
Geigers Apotheke führte Äther nicht.
»Aber ich bin kein ungeschickter Chemiker«, sagte Jay nachdenklich. »Ich kann ihn herstellen, wahrscheinlich. Dazu muss ich Äthylalkohol mit Schwefelsäure destillieren. Meinen metallenen Destillierkolben kann ich dazu allerdings nicht benutzen, den würde die Säure durchfressen. Aber ich habe noch eine Glasspirale und eine große Flasche.« Als sie seine Regale absuchten, fanden sie jede Menge Alkohol, aber keine Schwefelsäure. »Kannst du auch Schwefelsäure herstellen?« fragte ihn Rob. Geiger kratzte sich am Kinn, die Sache machte ihm offensichtlich Spaß. »Dazu muss ich Schwefel mit Sauerstoff verbinden. Ich habe genügend Schwefel, aber der chemische Prozess ist ein bisschen kompliziert. Wenn man Schwefel oxidiert, erhält man zunächst Schwefeldioxid. Ich muss dann das Schwefeldioxid noch mal oxidieren, um Schwefelsäure zu erhalten. Aber... klar, warum eigentlich nicht?« Wenige Tage später hatte Rob J. einen Vorrat an Äther. Harry Loomis hatte ihm beschrieben, wie man aus Draht und Stoffstreifen eine Äthermaske anfertigt. Zunächst probierte Rob J. das Gas an einer Katze aus, die zweiundzwanzig Minuten besinnungslos blieb. Dann raubte er einem Hund für über eine Stunde das Bewusstsein und erkannte an dieser langen Zeitspanne, dass Äther ein gefährlicher Stoff und mit Vorsicht anzuwenden ist. Zum Abschluss gab er das Gas einem männlichen Lamm vor der Kastration, und die Hoden wurden entfernt, ohne dass das Tier ein einziges Mal blökte. Schließlich wies er Geiger und Sarah in die Benutzung des Äthers ein, und sie verabreichten ihm das Gas. Er blieb nur ein paar Minuten bewusstlos, da sie vor Nervosität zu spärlich dosierten, aber es war trotzdem eine einzigartige Erfahrung.
Einige Tage später geriet Gus Schroeder, der ohnehin nur noch achteinhalb Finger hatte, mit dem Zeigefinger seiner guten, der rechten Hand, unter einen schweren Stein und zerquetschte ihn sich. Rob gab ihm Äther, und Gus wachte mit siebeneinhalb Fingern wieder auf und fragte, wann die Operation beginne. Rob war überwältigt von den neuen Möglichkeiten, er kam sich vor, als sei ihm ein Blick in die endlosen Weiten hinter den Sternen gewährt worden, und er erkannte, dass der Äther noch wertvoller war als seine Gabe. Diese Gabe besaßen nur wenige Mitglieder seiner Familie, aber mit dem Äther konnte von nun an jeder Arzt der Welt operieren, ohne dem Patienten mörderische Schmerzen zuzufügen. Mitten in der Nacht ging Sarah in die Küche hinunter und sah ihren Mann allein am Tisch
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