Medicus 03 - Die Erben des Medicus
jahrelang widerstand. Nur dieser eine war aus Fichtenholz, und er war auf Bodenhöhe so stark angefault, daß er, als das Pferd dagegenstieß, beinahe geräuschlos umfiel und Chaim über das nun flachliegende Zaunstück springen konnte.
Auf der Veranda stellte Sarah ihre Kaffeetasse ab und stand auf.
»Verdammt! Heh, Chaim, sei artig!« rief sie. »Bleib, wo du bist, du Flegel!«
Sie schnappte sich ein Stück altes Seil und einen Futterkübel, in dem noch ein wenig Hafer war, und stieg die Verandatreppe hinunter. Es war ziemlich weit bis zu dem Pferd, und sie zwang sich, langsam über den Hof zu gehen.
»Komm her, Chaim!« rief sie. »Komm, und hol's dir, Junge!«
Sie trommelte mit den Fingern auf den Futtereimer. Normalerweise reichte das, um das Pferd anzulocken, aber es hatte noch die Bärenwitterung in den Nüstern und trottete ein Stückchen die Straße hoch.
»Verdammt!«
Nun wartete Chaim auf sie, drehte sich aber um, so daß er den Waldrand beobachten konnte. Er hatte bei ihr nie ausgeschlagen, aber sie wollte kein Risiko eingehen und näherte sich ihm vorsichtig von der Seite, den Eimer vor sich ausgestreckt.
»Friß, du alter Trottel!«
Als er den Kopf in den Eimer senkte, ließ sie ihn ein Maulvoll fressen und legte ihm dann das Seil um den Hals. Sie verknotete es nicht, aus Angst, er könne noch einmal durchgehen, worauf sich das Seil irgendwo verfangen und ihn würgen würde. Am liebsten hätte sie sich auf ihn geschwungen und ihn ohne Sattel geritten. Statt dessen schob sie ihm, die ganze Zeit sanft und beruhigend auf ihn einredend, das Seil über die Ohren und an den Augen vorbei und hielt die Enden mit den Händen zusammen.
Sie mußte ihn an der Lücke im Zaun vorbei bis zum Gatter führen und dann die schweren Balken aus den Halteschlaufen heben, damit er wieder auf die Weide trotten konnte. Anschließend schloß sie das Gatter und überlegte sich eben, wie sie die Schadstelle bis zur Rückkehr ihres Vaters verbarrikadieren solle, als sie sich der Feuchtigkeit, der glänzenden Röte ihrer Beine und der schockierenden Spur, die sie hinterlassen hatte, bewußt wurde, und plötzlich verließen sie alle Kräfte, und sie begann zu weinen.
Als R.J. bei dem Holzhaus ankam, mußte sie sofort erkennen, daß die Handtücher, die Sarah zu Packen zusammengedrückt hatte, völlig unzureichend waren. Auf dem Boden war mehr Blut, als R.J. je für möglich gehalten hätte. Sie nahm an, daß Sarah dort gestanden hatte, weil sie die Bettwäsche nicht ruinieren wollte, dann aber, vermutlich vor Schwäche, aufs Bettgefallen war. Jetzt hingen die Beine vom dunkelrot gefärbten Bett herunter, die Zehen berührten den Boden.
R.J. hob die Füße aufs Bett, entfernte die durchtränkten Tücher und legte frische Kompressen an. »Sarah, du raußt die Beine fest zusammenpressen.«
»R.J.«, sagte Sarah schwach, von sehr weit weg.
Sie war bereits halb im Koma, und R.J. sah, daß sie ihre Muskeln nicht würde kontrollieren können. Mit langen Streifen Heftpflaster klebte sie Sarahs Beine an Knöcheln und Knien zusammen, stapelte dann Decken aufeinander und lagerte die Beine hoch.
Der Krankenwagen kam kurz darauf. Sarah wurde unverzüglich hineingebracht, und R.J. stieg zusammen mit Steve Ripley und Will Pauli hinten ein und begann sofort mit der Sauerstofftherapie. Während der Wagen mitheulender Sirene durch die Kurven schwankte, begann Ripley mit der Untersuchung.
Er brummte, als die Werte der Vitalfunktionen denen entsprachen, die R.J. vor dem Eintreffen der Sanitäter im Haus gemessen hatte.
R.J. nickte. »Sie hat einen Schock.«
Sie legten Sarah die Beine hoch und deckten sie fest zu. Sarahs Gesicht unter der grauen Sauerstoffmaske, die Mund und Nase bedeckte, hatte die Farbe von Pergament.
Zum erstenmal seit langer Zeit versuchte R.J., sich mit jeder Faser ihres Seins direkt an Gott zu wenden.
Bitte, sagte sie, bitte, ich will dieses Kind!
Bitte! Bitte, bitte, bitte! Ich brauche dieses frische, langbeinige Mädchen, dieses lustige, wunderschöne Mädchen, diese mögliche Tochter. Ich brauche sie.
Sie zwang sich, die Hände Sarahs in die ihren zu nehmen, und dann konnte sie sie nicht mehr loslassen, denn sie spürte, wie der Sand aus dem Stundenglas rieselte.
Sie konnte nichts tun, um das zu verhindern, konnte den Lauf der Dinge nicht mehr aufhalten. Sie konnte nur an der Sauerstoffversorgung herumschrauben, damit auch ja die optimale Mischung in die Maske strömte, und Will bitten, im Krankenhaus
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