Medicus 03 - Die Erben des Medicus
»Auch Sie trifft keine Schuld. Wissen Sie das?«
Sie nickte.
Er seufzte. »Ja, es ist immer schwer, einen Patienten zu verlieren, nicht wahr, R.J.? Und es wird nicht einfacher, egal, wie lang man schon praktiziert. Aber wenn man jemanden verliert, der einem viel bedeutet ...« Er schüttelte den Kopf. »Das kann einem schon jeden Mut nehmen.«
Draußen vor dem Restaurant küßte er sie auf die Wange, bevor er sich umdrehte und zu seinem Auto ging.
Schlafprobleme hatte R.J. keine. Im Gegenteil, nachts versank sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf, der ihre Zuflucht darstellte. Morgens lag sie dann in Embryonalhaltung unter der Decke und konnte sich lange nicht rühren.
Sarah.
Ihr Verstand sagte ihr, daß sie keine Schuldgefühle zulassen durfte, aber sie spürte auch, daß dieses Schuldbewußtsein unentwirrbar mit ihrem Kummer verwoben war und von nun an ein Teil von ihr sein würde.
Sie sah ein, daß es besser war, David zuerst zu schreiben, bevor sie versuchte, mit ihm zu reden. Es war ihr wichtig, daß er begriff, Sarahs Tod hätte ebensogut die Folge einer Blinddarmoperation oder einer Darmresektion sein können. Daß es bei keinem chirurgischen Eingriff hundertprozentige Sicherheit gab. Daß die Abtreibung Sarahs ganz persönlicher Entschluß gewesen war und daß sie sie hätte vornehmen lassen, auch wenn R.J. nicht versprochen hätte, ihr zu helfen. R.J. wußte, es würde David nur wenig trösten, wenn man ihm sagte, daß auch die sichersten invasiven Prozeduren ein gewisses Sterberisiko beinhalten. Daß Sarah, indem sie die Abtreibung der Schwangerschaft vorzog, ihre Überlebenschancen erhöhte, da in den Vereinigten Staaten durchschnittlich eine von 14.300 Frauen, die ihr Kind austragen, stirbt, dagegen nur eine von 23.000 Frauen, die abgetrieben haben. Und daß sowohl eine Schwangerschaft als auch eine Abtreibung äußerst geringe Risiken darstellen, vergleicht man sie mit dem Sterberisiko von eins zu sechstausend, sobald ein Mensch sich in ein Auto setzt. Sarahs Tod als Folge einer legalen Abtreibung war eine Ausnahme. Eine äußerst selten vorkommende Ausnahme. Sie begann Brief um Brief, bis sie schließlich einen fertigschrieb, der sie zufriedenstellte, und mit dem fuhr sie zum Postamt. Doch anstatt ihn aufzugeben, zerriß sie ihn und warf ihn in den Abfallkorb. Sie erkannte, daß sie ihn ebenso für sich wie für David geschrieben hatte. Was konnte ein solcher Brief denn schon bewirken? Was scherte sich David um Statistiken? Sarah war nicht mehr da. Und David ebenfalls nicht.
Vermächtnisse
Die Tage vergingen, doch R.J. hörte nichts von David. Sie rief Will Riley an und fragte ihn, ob er wisse, wann sein Nachbar zurückkomme.
»Nein, ich habe keine Ahnung. Das Pferd hat er verkauft, wissen Sie das? Telefonisch. Ich habe von ihm einen Brief bekommen, per Expreß, und ich mußte gestern um vier drüben sein, damit der neue Besitzer das Pferd abholen konnte.«
»Die Katze nehme ich«, sagte R.J.
»Das wäre gut. Sie ist in meiner Scheune. Ich habe schon vier Katzen.«
Also holte sie Agunah ab und nahm sie mit nach Hause. Agunah stolzierte durch das ganze Anwesen und inspizierte alles mit hochmütigem Argwohn, von der Schwanzspitze bis zu den Schnurrhaaren eine Königin auf Besuch. R.J. hoffte, daß David bald heimkommen und sie abholen würde. Zwischen ihr und der Katze war nie eine wirkliche Beziehung entstanden.
Einige Tage später unterhielt sie sich mit Frank Sotheby vor seinem Laden, und der warf die Frage auf, ob wohl ein anderer Immobilienmakler in den Ort ziehen und Dave Markus' Stelle einnehmen werde.
»Ich war überrascht, als ich hörte, daß er sein Haus zum Verkauf ausgeschrieben hat«, sagte er und musterte sie eingehend. »Soweit ich weiß, kümmert Mitch Bowditch aus Shelburne Falls sich darum.«
R.J. fuhr auf dem Mohawk Trail nach Shelburne Falls zuin Mittagessen und schaute dann im dortigen Maklerbüro vorbei. Bowditch war ein freundlicher Mann, ungezwungen im Umgang. Mit ehrlichem Bedauern in der Stimme sagte er ihr, daß er weder eine Adresse noch eine Telefonnummer von David Markus habe. »Ich besitze nur einen Brief, in dem er mich ermächtigt, den Grund und das Haus mit allem Inventar zu verkaufen und die Nummer eines New Yorker Bankkontos, auf das ich das Geld überweisen soll. David will, daß ich es schnell an den Mann bringe. Er ist ein wirklich guter Immobilienmakler, und er hat den Preis eher niedrig angesetzt. Ich glaube, ich kann es ziemlich schnell
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