Medicus von Konstantinopel
Die widerwärtigen Geschehnisse dieser Nacht hätten sonst einen ganz anderen Ausgang nehmen können.
»Schwester, wir müssen reden!«, sagte Marco, nach wie vor mit unüberhörbarem Zungenschlag.
»Nicht jetzt, Marco.«
»Wann denn dann?«
»Zum Beispiel, wenn die Wirkung des Rotweins in deinem Blut etwas nachgelassen hat!«
»Was wir zu besprechen haben, duldet keinen Aufschub mehr. Und es hat durchaus mit dem zu tun, was heute Abend geschah!«
»Dann lass uns dazu ins Haus gehen«, erwiderte Maria. »Es muss schließlich nicht der ganze Eutherios-Hafen mitbekommen, wie sich die Erben des Hauses di Lorenzo streiten. So etwas kann gar nicht gut fürs Geschäft sein!«
Marco folgte Maria in einen der Empfangsräume, die es in dem Kontor am Eutherios-Hafen gab. Die Einrichtung wirkte gediegen. Tische und schweres Sitzmobiliar aus dunklem Holz sowie Schnitzereien an den Armlehnen und den Ecken der Schränke und Truhen sollten den Eindruck von Erhabenheit vermitteln. Ein Kaminfeuer prasselte. Öllampen und Kerzenleuchter verbreiteten ein warmes Licht. Die Fensterscheiben aus venezianischem Glas waren um diese Zeit von außen mit dicken Holzläden geschützt. Das war notwendig, da es in den Nächten nicht selten vorkam, dass Steine über die Mauern des Kontors geworfen wurden, um die Fenster zu treffen. Zumeist waren es gläubige Eiferer, die der Auffassung waren, dass all das Unheil, von dem Konstantinopel heimgesucht worden war, allein durch die bloße Anwesenheit der lateinischen Ketzer in der Stadt verursacht würde. Anderen wiederum waren von Haus aus all jene verdächtig, die über einen vergleichsweise großen Reichtum verfügten. Der Reichtum und die Sünde, waren sie nicht ein unzertrennliches Paar? Hatte nicht schon Jesus verkündet, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gelangen könnte als ein Reicher ins Reich Gottes? Solche Gedanken wurden immer wieder von Eiferern aufgebracht, und manche glaubten, ihrem Herrn am besten damit zu dienen, dass sie die vermeintlichen Unheilsbringer mit Steinen bewarfen. Zu solchen Übergriffen war es in den vergangenen Jahren immer wieder gekommen – und dabei spielte es auch keine Rolle, dass die Genueser doch eigentlich die treuesten und einzig verbliebenen Verbündeten Konstantinopels waren. Viele dieser Eiferer schoren sämtliche Lateiner über einen Kamm, gleichgültig ob etwa Venezianer, Genueser, Aragonesen, Deutsche oder Ungarn; obwohl alle Lateiner letztlich dem Papst in Rom dienten, wurden sie trotz der offiziellen Kirchenunion für schlimmer angesehen als die Anhänger Mohammeds: Lieber Türken als Lateiner, das war eine Auffassung, die von nicht wenigen geteilt wurde.
»Warum habe ich plötzlich keinen uneingeschränkten Zugang mehr zum Vermögen des Hauses di Lorenzo?«, fragte Marco nun. »Davide und seine Helfershelfer verweigern mir die Herausgabe meines eigenen Geldes! Das ist unerhört! Und ich habe den Eindruck, dass du denen dabei auch noch hilfst!«
»Marco, unser Haus ist in einer prekären Situation. Wir können nicht einfach Unsummen für Zwecke abzweigen, die, um es mal gelinde auszudrücken, undurchsichtig sind!«
»Was meinst du damit?«
»Ich meine damit die Güter, die du diesem Orden der Cherubim hast zukommen lassen! Das ruiniert uns!«
Marco lachte heiser. »Lässt du mich beobachten? Ich hatte schon manches Mal gedacht, dass mir ein Schatten folgen würde, aber stets geglaubt, dass es Zuträger des Kaisers oder seiner Logotheten wären. Dass es deine Zuträger sein könnten, das hätte ich nie und nimmer für möglich gehalten!«
»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wovon du jetzt sprichst, Marco!«
»Ach, nein? Tu nicht so! Für mich ist die Sache jetzt klar. Du versteckst dich sicherlich hinter unserem ach so geschätzten Schreiber Davide, der angeblich nichts anderes im Sinn hat als den Schutz des Hauses di Lorenzo und den Erhalt des Reichtums, den unsere Vorväter aufgehäuft haben. Doch ich sage dir eins, Maria: Dieser Davide denkt nur an sich selbst! Und dass er mir den vollen Zugriff auf mein rechtmäßiges Erbe verweigert und mich mit fadenscheinigen Begründungen daran hindert, es für die Zwecke zu verwenden, die ich für richtig halte, ist wider jedes Recht!«
»Worum geht es denn da im Einzelnen, Marco? Du sprichst in Rätseln für mich.«
»Du willst behaupten, du wüsstest davon gar nichts? Das ist doch lächerlich!«
»Davide und ich hatten diese Dinge ganz allgemein besprochen, das stimmt. Allerdings muss ich
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