Medienmuendig
und nicht unter Stress stehen. 40
Was könnten evolutionäre Vorteile des »überflüssigen« Spielens sein? Nach der aktuellen Flexibilitäts-Hypothese, die auf den Evolutionsbiologen Marc Bekoff an der Universität in Colorado zurückgeht, ist Spiel im Kern »Training für das Unerwartete«. 41 Neuere Forschungsergebnisse aus Tierversuchen an Ratten stützen eine andere, ebenfalls beliebte Erklärung, nämlich dass Spielen das Hirnwachstum während früher Phasen der Gehirnentwicklung stimuliert. 42
Ob man nun der Flexibilitäts- oder der Gehirnwachstums-Hypothese folgt: Beide enthalten starke Argumente, warum auf Spiel auch nach rein funktionalistischer Logik nicht verzichtet werden kann. Überträgt man also die Prinzipien der Evolutionsbiologie auf die Medienpädagogik, muss man schlussfolgern: Eingleisige, technisch orientierte Frühförderung ist zutiefst innovationsfeindlich.
Das Problem, dass der gewählte Vergleich zwischen Evolutionsbiologie und Pädagogik bedenklich hinkt, habe ich damit noch gar nicht angesprochen. In der Evolution der Lebewesen war ja die Umwelt in der Regel das durch die Lebewesen nicht Beeinflussbare, das jeweils Vorgegebene. Nur solche Lebensformen, die an diese durch sie nicht oder nur sehr eingeschränkt veränderlichen Umweltbedingungen am besten angepasst waren, setzten sich durch. So ähnlich stellt sich heute leider so mancher »Zweck-Pädagoge« auch die Erziehung vor: Effiziente Produktion von Humankapital, Bildung als Anpassung von jungen Menschen an die bestehenden Rahmenbedingungen.
Um es zusammenzufassen: Man kann einen oberflächlichen und einen tiefergehenden Denkfehler bei den »Beschleunigungspädagogen« beschreiben, die rufen: »Machen wir unsere Kinder fit für den Computer!« Erstens wissen sie nicht, wie Computer aussehen werden, wenn die Kinder von heute erwachsen sind. Zweitens, und das ist der gravierendere Denkfehler, übersehen sie die »Künstlichkeit« der Medienwelt. Anders als der Mensch, der die Medienwelt selbst erschafft, »macht« sich ein Tier seine natürliche Umwelt nicht. Die Entwicklung der Medienwelt darfnicht als »Naturereignis« hingenommen werden. Das forderte schon Neil Postman:
Wir müssen die Technologie nutzen, statt von ihr benutzt zu werden. […] Es gibt eine Tendenz, insbesondere im Westen […], leidenschaftlich an die Technologie zu glauben und immer mehr so zu werden, wie die Technologie uns zu werden zwingt. Unsere Kinder sollten die Macht, die Technologien haben können, verstehen lernen und ernsthaft anfangen, darüber nachzudenken, wie die Technologien kontrolliert werden können. Ich meine damit: Sie sollten lernen, wie wir die Dinge in unserer Kultur bewahren können, die wir trotz der Technologien bewahren wollen; und wie wir schließlich die Technologie zu unserem Wohlergehen statt zum Wohlergehen der Technologie nutzen können. 43
Weniger ist mehr? – Ein Exkurs zum Informationsbegriff
Ein zweiter, sehr gewichtiger Grund spricht gegen die Nutzung von Bildschirmen im Kindesalter, und zwar die Reizüberflutung oder das Zuviel an Information. Dazu eine kleine Erläuterung zum Begriff »Information«: Mehr Information, so meinen viele, ist immer gut. Aber Vorsicht, es kommt darauf an, was man unter Information versteht. Der quantitative Begriff setzt voraus, besonders viel »Information« enthalte eine Nachricht, die komplett neue Signalfolgen liefert. Diese Signale und ihre Abfolge sind vom Empfänger nicht vorauszusehen. Vollständig bekannte Signalfolgen dagegen sind Null-Informationen. Das ist das Lob der Erstmaligkeit, aber auch des Chaos. Je mehr Unvorhersehbares, desto mehr Information. Um das
Verstehen
von Information geht es dabei gar nicht, wie Warren Weaver, einer der beteiligten Forscher, selbst betont:
Zwei Botschaften, von denen die eine sehr bedeutungsvoll, die andere kompletter Quatsch ist, können in Bezug auf ihren Informationsgehalt gleich sein. 44
Auf der anderen Seite bildete sich, aus der Thermodynamik kommend, ein genau entgegengesetzter Informationsbegriff heraus, die »Neg-Entropie«. 45 Sie beruht auf der Vorstellung, dass Entropie Unordnung (das Durcheinanderschwirren von Atomen) ist und dass die Herstellung von Ordnung deshalb positive Information ermöglicht. Totales Chaos bedeutete hier null Information, während eine Zunahme an Strukturiertheit, wie sie in der Chemie der Moleküle und der Biologie der Organismen zu finden ist, als Informationszuwachs gesehen wurde. Das ist
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