Medienmuendig
Bildschirm wegzulocken, wird nicht glücken. Mag sein, dass es Zeiten gab, in denen die Computerspiele so viel weniger fesselnd waren, dass diese Strategie Aussicht auf Erfolg hatte − heute sicher nicht mehr.
Das gilt nicht nur für Computerspiele, sondern fängt viel früher an: Eine Mutter aus der »normalen« Vergleichsgruppe meiner Interviewstudie berichtete ernüchtert über ihren Versuch, den vierjährigen Marco vom Fernseher »wegzulocken«:
Man sagt ja immer, Alternativen anbieten, und ich frag dann Marco, soll ich dir was vorlesen, aber wenn er dann nur sagt, nein, ich will lieber fernsehen … Da bin ich dann erst einmal geschockt und ziemlich traurig. Also ich nehme mir die Zeit und biet’ es ihm an, und er will das gar nicht.
Damit ist Marcos Mutter nicht allein. In der Vorlesestudie von 2007 6 wurden »vorlesefaule« Eltern gefragt, warum sie ihren Kindern nicht vorlesen. 29 Prozent der deutschen Eltern gaben an: »Meine Kinder sehen lieber fern.« 23 Prozent gaben an: »Meine Kinder spielen lieber Computerspiele.« In türkischen Familien in Deutschland scheinen Bildschirme noch stärker in Konkurrenz zum Buch zu treten. Hier sind es 76 Prozent beim Fernsehen und 72 Prozent bei den Computerspielen. Ob türkische Kinder wirklich dreimal stärker auf Bildschirme fliegen? Oder ob gar türkische Eltern so viel schlechter vorlesen? Kaum. Ich gehe eher davon aus, dass deutsche Eltern sich dreimal seltener trauen zuzugeben, dass ihre Kinder lieber fernsehen als vorgelesen zu bekommen.
Fest steht, dass Fernsehen das Vorlesen verdrängt. Das liegt, um es noch einmal ganz deutlich zu sagen, wirklich nicht daran, dass die Eltern schlecht vorlesen können. Fernsehen verdrängt ja auch das Spielen im Freien und das Treffen mit Freunden, also die beiden erklärten Lieblingsbeschäftigungen der Kinder. Die Konsequenz ist eindeutig: Das Sitzen vorm Bildschirm ist nicht einfach eine Alternative unter vielen, sondern es ist diejenige »Alternative«, die andere Möglichkeiten zerstört. Deshalb ist es geradezu Voraussetzung für eine freiheitliche Erziehung, Bildschirmzeiten so lange es geht zu vermeiden. Sie setzen auch nicht einen Fisch ins Aquarium, von dem Sie schon wissen, dass er alle anderen Fische auffressen wird, oder? Wenn Sie einen solchen Fisch unbedingt halten wollen, müssen Sie für ihn ein kleines Extrabecken anschaffen. Das ist ein sehr nützliches Bild dafür, wie kontrollierter Konsum von Bildschirmmedien aussehen kann: Die Alternative zum Bildschirm als Babysitter, um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, sind viele, viele Stunden, Tage und Wochen Gelegenheit, echte Alternativen wachsen zu lassen. Das wären die Fische, Pflanzen, Schnecken in dem großen Aquarium. Die Alternativen zum Bildschirm brauchen Platz, sie brauchen Licht, sie brauchen Pflege, sie brauchen Zeit, um zu wachsen. Sie können sich nicht entwickeln, wenn sie in Konkurrenz zum Bildschirm stehen, genauso wie die Fische nicht gedeihen, wenn Raubfische im selben Becken sind. Raubfische gehören, wenn überhaupt, ins Extrabecken. Im vorigen Kapitel habe ich einige Ideen genannt, wie so ein »Extrabecken«, wie gute Regelungen für Bildschirmzeiten aussehen könnten.
Und wie ist es mit der Schule? Kann die Schule dabei helfen, Alternativen zu stärken? Ja, Interventionsprogramme an Kindergärten und Schulen können Eltern aufklären und unterstützen, die Bildschirmzeiten zu verringern. Dies wird, wie oben erwähnt, in Amerika bereits praktiziert. Solche Programme berücksichtigen auch, dass die Vorbeugung gegenüber der Behandlung bereits bestehender Probleme ein stärkeres Gewichtbekommen muss. Unterrichtseinheiten dagegen, bei denen die Kinder in der Schule ihr häusliches Medienverhalten reflektieren, können auch genau das Gegenteil von dem bewirken, was sie bezwecken. Eine Lehrerin berichtet:
Es ist mir schon so oft so gegangen, dass wir im Unterricht Medien thematisiert haben und dass dadurch so eine richtige Plattform für die coolen Jungs entstand, auf der sie sich mit all den verbotenen Medienangeboten präsentieren und hervortun konnten, die sie (angeblich) schon genutzt haben. Da dachte ich dann manchmal: Der Schuss geht ja eher nach hinten los!
Gerade wenn nicht die Mediennutzung, sondern die Alternativen im Vordergrund des Unterrichts stehen, kann aber auch viel Gutes in einer Klasse entstehen, zum Beispiel, als das Kollegium der oben erwähnten kleinen Schule eine »Medienwoche« gestaltete. Hier
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