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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Veränderung, die Erkennen bedeutete. Dennoch rührte sich weder sein Mund noch ein Augenlid oder ein Finger. Irgend etwas Unsichtbares in seinem Innern hatte sich geregt.
    Der anfahrende Zug bot mir einen Vorwand, ihm mit den Augen zu folgen. Sonst war kein Mensch auf dem Bahnsteig. Keine Autos warteten neben dem zugenagelten, mit Spinnweben überzogenen Dienstraum. Ich allein hatte den eisernen Donner verlassen, um den Fuß auf den holprigen Bahnsteig zu setzen.
    Der Zug fuhr pfeifend über den Hügel.
    Dummkopf! dachte ich. Mein Reisegenosse hatte recht gehabt. Ich würde vor der Langeweile dieses Ortes, die ich bereits spürte, Angst bekommen. Na schön, dachte ich, ein Dummkopf mag ich wohl sein, aber kneifen, nein!
    Ich trug meinen Koffer vom Bahnsteig hinunter, ohne den alten Mann anzusehen. Als ich an ihm vorbeiging, bemerkte ich wieder, wie sein magerer Leib sich regte, diesmal hörbar. Er setzte die Füße herunter und berührte die vermoderten Bretter.
    Ich ging weiter.
    »Tag«, sagte eine schwache Stimme.
    Ich wußte, daß er nicht mich ansah, sondern die wolkenlose Weite des schimmernden Himmels.
    »Tag«, erwiderte ich.
    Ich schlug den ungepflasterten Weg zur Stadt ein. Hundert Meter weiter wandte ich mich um.
    Der alte Mann saß immer noch da und starrte die Sonne an, als stellte er ihr eine Frage.
    Ich eilte weiter.
    Ich wanderte durch die im Spätnachmittag träumende Stadt, gänzlich anonym und allein, eine Forelle, die stromaufwärts zog, ohne die Ufer des klaren Lebensflusses zu berühren, der mich überall umspülte.
    Mein Verdacht bestätigte sich. Es war eine Stadt, in der nichts geschah und in der sich nur folgendes zutrug:
    Um Punkt vier Uhr schlug die Tür von Honnegers Eisenwarenhandlung hinter einem Hund zu, der herauskam, um sich auf der Straße zu schütteln. Um halb fünf verursachte ein leergesogener Strohhalm am Boden eines Sodaglases in der Stille des Drugstores ein Geräusch wie ein mächtiger Wasserfall. Fünf Uhr – Jungen und Kieselsteine tauchten in den Stadtfluß. Halb sechs – Ameisen marschierten im schrägen Licht unter ein paar Ulmen.
    Und doch – ich ging langsam im Kreis – mußte es irgendwo in dieser Stadt etwas Sehenswertes geben. Ich wußte, daß es hier war. Ich wußte, daß ich weitergehen und mich umschauen mußte. Ich wußte, daß ich es finden würde.
    Ich ging. Ich schaute.
    Den ganzen Nachmittag lang bemerkte ich nur eine einzige beständige, unwandelbare Tatsache: Der alte Mann in verblichenen Hosen und Hemd blieb stets in meiner Nähe. Saß ich im Drugstore, so saß er davor und spuckte Tabak aus, der sich im Staub zu Mistkäfern ringelte. Wenn ich am Fluß stand, kauerte er ein Stück weiter stromabwärts und wusch sich umständlich die Hände.
    Gegen halb acht Uhr abends ging ich zum siebenten oder achten Mal durch die stillen Straßen, als ich neben mir Schritte hörte.
    Ich sah hinüber; der alte Mann versuchte mich einzuholen. Er blickte gerade vor sich hin und hielt einen trockenen Grashalm zwischen seinen gefleckten Zähnen.
    »War das eine lange Zeit«, sagte er ruhig.
    Wir schritten in der Dämmerung weiter.
    »Lange Zeit«, fuhr er fort, »habe ich auf dem Bahnsteig gewartet.«
    »Sie?« fragte ich.
    »Ja, ich.« Er nickte im Schatten der Bäume.
    »Haben Sie dort auf jemanden gewartet?«
    »Ja«, sagte er. »Auf Sie.«
    »Auf mich?« Man mußte meiner Stimme die Überraschung anhören. »Aber warum…? Sie haben mich doch noch nie im Leben gesehen.«
    »Habe ich das denn behauptet? Ich sagte nur, daß ich wartete.«
    Wir hatten jetzt den Stadtrand erreicht. Er schlug die Richtung zum dunklen Flußufer ein, und ich folgte ihm zur Brücke, über die die Nachtzüge nach Osten und Westen fuhren, die hier nur ganz selten anhielten.
    »Wollen Sie irgend etwas von mir wissen?« fragte ich plötzlich. »Sind Sie der Sheriff?«
    »Nein, nicht der Sheriff. Und ich möchte auch nichts von Ihnen wissen.« Er vergrub die Hände in den Taschen. Die Sonne war untergegangen, und die Luft wurde kühler. »Ich bin nur überrascht, daß Sie endlich hier sind, das ist alles.«
    »Überrascht?«
    »Überrascht«, wiederholte er, »und… froh.«
    Ich blieb unvermittelt stehen und blickte ihn an.
    »Wie lange sitzen Sie schon an dem Gleis?«
    »Seit ungefähr zwanzig Jahren.«
    Ich wußte, daß er die Wahrheit sagte; seine Stimme war leicht und ruhig wie der Fluß.
    »Und Sie haben auf mich gewartet?« sagte ich.
    »Oder jemand wie Sie«, sagte er.
    Wir gingen

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