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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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natürlich – es war Santa Lucia. Seine Lippen bewegten sich und flüsterten: »Santa Lucia, Santa Luda!« Es war himmlisch.

 
Die Stadt, wo niemand ausstieg
     
     
     
    W er bei Tag oder bei Nacht im Zug quer durch die Vereinigten Staaten fährt, sieht in der Einöde einen Ort nach dem andern vorbeiflitzen, wo im Leben nie jemand aussteigt. Oder vielmehr, wo niemand, der nicht gerade hingehört, niemand, der nicht gerade in diesen Landfriedhöfen verwurzelt wäre, es sich je einfallen ließe, ihre einsamen Bahnhöfe zu besuchen oder sich ihren einsamen Ansichten zu widmen.
    Ich unterhielt mich darüber mit einem Reisegefährten, einem Geschäftsreisenden wie ich selbst, im Zug von Chicago nach Los Angeles, als wir eben durch Iowa fuhren.
    »Stimmt«, sagte er. »Die Leute steigen aus in Chicago; jeder steigt dort aus. Sie steigen in New York aus, in Boston, in Los Angeles. Wer nicht dort wohnt, fährt mal hin, um sich die Stadt anzusehen und dann von ihr zu erzählen. Aber welcher Tourist ist jemals in Fox Hill, Nebraska, ausgestiegen, um es zu besichtigen! Sie vielleicht? Oder ich? Nein! Ich kenne da niemanden, habe nichts dort zu suchen, es ist auch kein Kurort, was soll man also dort?«
    »Wäre es nicht eine interessante Abwechslung«, sagte ich, »wenn man sich irgendwann einmal ganz andere Ferien vornähme? Sich ein verlorenes Dorf aussuchte, in dem man keine Menschenseele kennt, und hinfährt, nur mal so?«
    »Sie würden sich ja doch nur tödlich langweilen.«
    »Die Vorstellung langweilt mich durchaus nicht!« Ich blickte aus dem Fenster. »Wie heißt die nächste Stadt auf dieser Strecke?«
    »Rampart Junction.«
    Ich lächelte. »Klingt gut. Vielleicht steige ich dort aus.«
    »Sie lügen und reden Unsinn. Was suchen Sie da? Abenteuer?
    Liebesaffären? Also los, springen Sie aus dem Zug. Zehn Sekunden später nennen Sie sich selbst einen Idioten, schnappen sich ein Taxi und fahren bis zur nächsten Stadt hinter uns her.«
    »Möglich.«
    Ich sah die Telefonmasten vorbeigleiten. Weit vor uns erkannte ich die ersten verschwommenen Umrisse einer Stadt.
    »Aber ich glaube es nicht«, hörte ich mich sagen.
    Der Geschäftsreisende setzte ein leicht erstauntes Gesicht auf.
    Denn ich stand langsam, ganz langsam auf, griff nach meinem Hut und sah, wie meine Hand nach meinem einzigen Koffer tastete. Ich war selbst überrascht.
    »Warten Sie!« rief der andere. »Was tun Sie da?«
    Der Zug bog plötzlich in eine Kurve ein. Weit vor uns erblickte ich einen Kirchturm, einen tiefen Wald, ein Feld mit Sommerweizen.
    »Es sieht so aus, als ob ich aussteigen würde«, sagte ich.
    »Setzen Sie sich«, sagte er.
    »Nein«, sagte ich. »Irgend etwas an dieser Stadt da vorn reizt mich. Ich muß sie sehen. Ich habe genug Zeit. Eigentlich muß ich erst am nächsten Montag in Los Angeles sein. Wenn ich jetzt nicht aussteige, werde ich mich immer fragen, was ich wohl versäumt habe, was ich mir entgehen ließ, als ich die Gelegenheit hatte.«
    »Wir haben nur so dahergeredet. Es ist nichts dran.«
    »Sie täuschen sich«, sagte ich. »Da ist etwas.«
    Ich setzte mir den Hut auf und hob den Koffer auf.
    »Mein Gott«, sagte der Vertreter, »ich glaube, Sie bringen es wirklich fertig.«
    Mein Herz schlug rasch. Mein Gesicht rötete sich.
    Der Zug pfiff und raste dahin. Die Stadt war nah!
    »Wünschen Sie mir Glück«, sagte ich.
    »Viel Glück!« schrie er.
    Ich rief laut nach dem Gepäckträger.
    Auf dem Bahnsteig stand ein alter Stuhl, von dem die Farbe bereits abblätterte. Auf diesem Stuhl saß völlig entspannt, so daß er in seinen Kleidern versank, ein etwa siebzigjähriger Mann, der so aussah, als sei er dort festgenagelt, seit der Bahnhof gebaut worden war. Die Sonne hatte sein Gesicht dunkel gefärbt und in seine Wangen krumme Falten und Löcher eingebrannt, die seine Augen zu einem ständig schielenden Blick verzogen. Sein Haar rauchte aschfahl im Sommerwind. Sein blaues Hemd, das am Hals offenstand und dünne weiße Sehnen wie Uhrfedern entblößte, war verblichen wie der grelle Spätnachmittagshimmel. Seine Schuhe waren geborsten, als hätte er sie lange Zeit an eine Ofenklappe gehalten. Sein Schatten zeichnete sich als schwarzer, gleichbleibender Fleck unter ihm ab.
    Als ich hinunterstieg, huschten die Augen des alten Mannes über jede Zugtür und verweilten dann überrascht auf mir.
    Ich dachte, er würde mir zuwinken.
    Aber ich bemerkte nur, wie seine geheimnisvollen Augen sich färbten: eine chemische

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