Medizin für Melancholie
weiter in die dichter werdende Dunkelheit hinein.
»Wie gefällt Ihnen unsere Stadt?«
»Nett, ruhig«, sagte ich.
»Nett, ruhig.« Er nickte. »Und die Leute?«
»Die Leute sahen auch nett und ruhig aus.«
»Sind sie auch«, sagte er. »Nett, ruhig.«
Ich wäre gern umgekehrt, aber der Alte sprach weiter, und um ihm zuzuhören und höflich zu sein, mußte ich ihm folgen, in die Nacht hinein, in die flutenden Felder und Wiesen hinter der Stadt.
»Ja«, sagte der Alte, »am selben Tag, als ich pensioniert wurde, vor zwanzig Jahren, setzte ich mich auf den Bahnsteig und blieb sitzen, ich tat nichts und wartete, bis etwas geschehen möge. Ich wußte nicht, was, ich hätte es nicht sagen können. Aber als es endlich geschah, da erkannte ich es, ich sah es und sagte, ja, darauf habe ich gewartet. Ein Zugunglück? Nein. Eine alte Freundin, die nach fünfzig Jahren in die Stadt zurückkehrt? Nein, nein. Es ist schwer zu sagen. Irgend jemand. Irgend etwas. Und es scheint etwas mit Ihnen zu tun zu haben. Ich wünschte, ich könnte es sagen…«
»Warum versuchen Sie es nicht?« sagte ich.
Die Sterne kamen hervor. Wir gingen weiter.
»Nun«, sagte er langsam, »verstehen Sie denn viel von Ihrem Innern?«
»Meinen Sie den Magen oder meinen Sie in psychologischer Hinsicht?«
»Das ist das richtige Wort. Ich meine Ihren Kopf, Ihr Hirn, verstehen Sie was davon?«
Das Gras flüsterte unter meinen Füßen. »Ein wenig.«
»Haben Sie in Ihrem Leben viele Menschen gehaßt?«
»Einige.«
»Das tun wir alle. Es ist wohl normal, daß man haßt, nicht wahr? Und nicht nur Haß, sondern auch, daß wir uns manchmal wünschen, selbst wenn wir nicht darüber sprechen, einen Menschen zu schlagen, der uns verletzt hat, ja, sogar ihn umzubringen.«
»Es vergeht kaum eine Woche, ohne daß einen dieses Gefühl überkommt«, sagte ich, »und daß man es verdrängt.«
»Wir verdrängen unser ganzes Leben«, sagte er. »Die Leute in der Stadt sagen dies und das, Mama und Papa sagen so und so, das Gesetz sagt so und so. So verdrängt man einen Totschlag und wieder einen und danach noch zwei. Bis Sie in mein Alter kommen, haben Sie eine Menge von solchem Zeug im Kopf. Und wenn man nicht in den Krieg zieht, geschieht nie etwas, wodurch man es loswerden kann.«
»Manche Männer schießen auf Tontauben oder gehen auf Entenjagd«, sagte ich. »Andere boxen oder tragen Ringkämpfe aus.«
»Und manche nicht. Ich spreche von denen, die das nicht tun. Von mir. Mein ganzes Leben habe ich diese Körper eingesalzen und auf Eis gelegt in meinem Kopf. Manchmal packt einen die Wut auf eine Stadt und die Leute in ihr, weil sie einen zwingen, die Dinge so beiseite zu schieben. Und man bewundert den alten Höhlenmenschen, der einfach losbrüllte und einen anderen mit dem Knüppel auf den Kopf schlug.«
»Worauf läuft das alles hinaus…?«
»Es läuft darauf hinaus: Jeder möchte in seinem Leben gern einen Mord begehen, sozusagen, um etwas von der großen Last abzuwälzen, von all diesen Morden in seinem Kopf, die er nie zu begehen wagte. Und von Zeit zu Zeit bietet sich ihm eine Gelegenheit. Da läuft ihm einer vor das Auto, und er vergißt das Bremsen und fährt weiter. In solchen Fällen kann niemand etwas beweisen. Der Mann gesteht nicht mal sich selber ein, daß er es mit Absicht getan hat. Er hat seinen Fuß einfach nicht rechtzeitig auf die Bremse setzen können. Aber Sie und ich wissen, was wirklich geschah, nicht wahr?«
»Ja«, sagte ich.
Die Stadt war weit fort. Wir schritten auf einer Holzbrücke über einen kleinen Bach dicht neben dem Eisenbahndamm.
»Die einzige Art zu töten«, sagte der Alte und blickte ins Wasser hinunter, »die einzige, die sich lohnt, ist die, nach der niemand ahnt, wer es getan hat oder warum es geschah und wem es gegolten hat, nicht wahr? Ich bin vor zwanzig Jahren auf diese Idee gekommen. Ich denke nicht jeden Tag oder jede Woche daran. Manchmal vergehen Monate, aber die Idee ist die: Hier hält jeden Tag nur ein Zug, zuweilen nicht mal einer. Wenn man also jemand töten wollte, so müßte man doch, nicht wahr, jahrelang warten, bis ein völlig Fremder in unsere Stadt käme, ein Fremder, der ohne Grund aus dem Zug steigt, ein Mann, den niemand kennt und der niemanden in der Stadt kennt. Dann, nur dann, dachte ich, während ich auf dem Bahnhofsstuhl saß, könntest du aufstehen und losgehen, wenn niemand in der Nähe ist, ihn umbringen und in den Fluß werfen. Man würde ihn Meilen weiter flußabwärts
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