Medizin für Melancholie
oder vielleicht überhaupt nicht finden. Niemandem würde je einfallen, nach Rampart Junction zu kommen, um ihn zu suchen. Dort wollte er nicht hin. Er war unterwegs woandershin. So, das meine ich. Und ich würde diesen Mann sofort erkennen, wenn er aus dem Zug stiege. Ihn erkennen, ebenso deutlich wie…«
Ich war stehengeblieben. Es war dunkel. Der Mond würde erst eine Stunde später aufgehen.
»Würden Sie?« fragte ich.
»Ja«, antwortete er. Ich bemerkte seine Kopfbewegung, als er zu den Sternen aufsah. »Nun, wir haben genug geredet.« Er kam dicht an mich heran und berührte meinen Ellbogen. Seine Hand war fiebrig, als hätte er sie an einen Ofen gehalten, bevor er mich berührte. Die andere Hand, die rechte, war tief und fest in seiner Tasche verborgen. »Ich habe genug geredet.«
Ein Schrei.
Ich reckte den Kopf.
Oben flog ein Nachtexpreß über die unsichtbaren Geleise, schwenkte einen Lichtschein über Hügel, Wald, Bauernhof und Stadtgebäude, Feld, Graben, Wiese, umgepflügte Erde und Wasser, und war heulend, mit einem hohen Pfeifton, verschwunden. Die Schienen zitterten noch eine Weile. Dann Stille.
Der alte Mann und ich standen da und blickten einander an. Seine linke Hand hielt immer noch meinen Ellbogen. Die andere war immer noch verborgen.
»Darf ich etwas sagen?« fragte ich schließlich.
Der Alte nickte.
»Über mich selbst«, sagte ich. Ich mußte mich unterbrechen, denn ich konnte kaum atmen, zwang mich aber fortzufahren. »Es ist merkwürdig. Ich habe oft genauso gedacht wie Sie. Ja, bestimmt, gerade heute, als ich so durch das Land fuhr, dachte ich, wie perfekt, wie wirklich perfekt das sein könnte. Das Geschäft ging in der letzten Zeit schlecht: Die Frau krank. Ein guter Freund starb letzte Woche. Krieg in der Welt. Ich selbst bin voll angestautem Groll. Es würde mir unendlich guttun…«
»Was?« sagte der Alte, die Hand auf meinem Arm.
»In einer kleinen Stadt aus dem Zug zu steigen«, sagte ich, »in einer kleinen Stadt, wo niemand mich kennt, mit dieser Pistole unter dem Arm, jemand zu suchen, ihn umzubringen, zum Bahnhof zurückzukehren und weiterzufahren, nach Hause, und niemand würde je erfahren, wer es getan hat, nie. Perfekt, dachte ich, ein perfektes Verbrechen. Und ich stieg aus dem Zug.«
Wir standen noch eine Minute lang im Dunkeln und starrten einander an. Vielleicht lauschte jeder auf den raschen, den sehr raschen Herzschlag des anderen.
Die Welt drehte sich unter mir. Ich ballte die Fäuste. Ich hätte hinfallen mögen, ich hätte heulen mögen wie der Zug.
Denn auf einmal erkannte ich, daß alles, was ich eben gesagt hatte, keine Lüge war, die ich mir ausgedacht hatte, um mein Leben zu retten.
Alles, was ich dem Alten gesagt hatte, war wahr.
Und jetzt wußte ich, warum ich aus dem Zug ausgestiegen und durch diese Stadt gegangen war. Ich wußte, was ich gesucht hatte.
Ich hörte, wie der Alte rauh und schnell atmete. Seine Hand lag fest auf meinem Arm, als würde er gleich hinfallen. Er hatte die Zähne zusammengebissen. Er beugte sich zu mir, ebenso wie ich mich ihm näherte. Es war ein stiller Augenblick schrecklicher Spannung, wie vor einer Explosion.
Endlich vermochte er zu sprechen. Es war die Stimme eines Menschen, den eine ungeheure Last niederdrückte.
»Wie kann ich wissen, ob Sie eine Pistole unter Ihrem Arm tragen?«
»Sie wissen es nicht.« Meine Stimme war verschleiert. »Sie wissen es nicht mit Sicherheit.«
Er wartete. Ich dachte, er würde ohnmächtig werden.
»Ist es so?« fragte er.
»Ja, so ist es«, erwiderte ich.
Er schloß Mund und Augen.
Nach weiteren fünf Sekunden gelang es ihm, langsam und mühsam seine Hand von meinem ungeheuer schwer werdenden Arm zu heben. Er sah auf seine rechte Hand hinunter und zog sie leer aus der Tasche.
Langsam, mühsam wandten wir uns voneinander ab und gingen blind, völlig blind, in der Dunkelheit fort.
Das Signalzeichen der Bedarfshaltestelle zuckte über die Gleise hin. Erst als der Zug aus dem Bahnhof hinausfuhr, lehnte ich mich aus der offenen Tür des Pullmanwagens und schaute zurück.
Der Alte saß da, den Stuhl an die Wand des Bahnsteiges gelehnt, in verschossenen blauen Hosen und Hemd, mit sonnenverbranntem Gesicht und sonnengebleichten Augen. Er sah nicht zu mir hin, als der Zug vorbeiglitt. Er blickte ostwärts über die leeren Schienen, auf denen morgen oder übermorgen oder am Tag danach ein Zug, irgendein Zug heranbrausen, langsamer werden und anhalten würde. Sein
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