Medizin für Melancholie
herunter, William Finch. Ich steige hinauf und werfe dich hinaus aus dieser dreckigen Bude!«
»Ich gehe zu Haunahans Pier und bestelle mir eine Schale Muschelsuppe«, sagte er. »Und ich werde die Blaskapelle bitten, ›Moonlight Bay‹ zu spielen. Ach, komm doch, Cora…« Er bewegte die ausgestreckte Hand.
Sie starrte nur in sein sanftes, fragendes Gesicht.
»Leb wohl«, sagte er.
Er winkte freundlich, dann waren sein Gesicht und der Strohhut verschwunden.
»William!« schrie sie.
Die Dachkammer war still und dunkel.
Sie lief schreiend fort, holte einen Stuhl und stieg keuchend in die modrige Finsternis hinauf. Sie schwenkte eine Taschenlampe. »William! William!« schrie sie.
Die dunkle Kammer war leer. Winterwinde schüttelten das Haus. Da sah sie, daß das hintere Fenster an der Westseite der Dachkammer angelehnt war.
Sie tastete sich heran. Sie zögerte, hielt den Atem an und öffnete die Luke. Die Leiter hing draußen; sie führte zum Dach der Veranda.
Sie fuhr vom Fenster zurück.
Draußen, hinter dem geöffneten Fenster, leuchteten hellgrüne Apfelbäume in der Dämmerung eines Juliabends. Sie hörte in der Ferne Knallfrösche krachen, sie hörte Gelächter und ferne Stimmen. Raketen barsten leise in der lauen Luft, rot, weiß und blau, und lösten sich auf.
Sie schlug das Fenster zu und stand taumelnd da. »William!«
Winterliches Licht drang durch die Falltür am Boden der Dachkammer hinter ihr. Als sie sich vorbeugte, sah sie den Schnee gegen die kalten, klaren Scheiben in diese Novembernacht hineinfallen, in der sie die nächsten dreißig Jahre verbringen würde.
Sie ging nicht wieder ans Fenster. Sie saß allein in der schwarzen Dachkammer und roch immer noch denselben Duft, der sich anscheinend nicht verflüchtigte. Er hing wie ein Seufzer der Zufriedenheit in der Luft. Sie holte tief Atem.
Der alte, vertraute, der unvergeßliche Duft von Drugstore-Sarsaparilla.
Ikaros Montgolfier Wright
Er lag auf dem Bett, und der Wind blies durch das Fenster über seine Ohren und seinen halbgeöffneten Mund und flüsterte in seine Träume hinein. Es war wie der Wind der Zeit, der die delphischen Grotten aushöhlte und sagte, was gesagt werden mußte, von Gestern, Heute und Morgen. Manchmal schrie eine ferne Stimme, manchmal waren es zwei, ein Dutzend, die ganze Menschheit rief durch seinen Mund, aber die Worte waren immer die gleichen:
»Seht, seht, wir haben es geschafft!«
Denn plötzlich wurde er oder wurden sie, einer oder viele, im Traum emporgeschleudert und flogen. Die Luft dehnte sich zu einem lauen Meer, in dem er ungläubig schwamm.
»Seht, seht, es ist erreicht!«
Aber er forderte die Welt nicht auf, ihm zuzusehen; er rüttelte nur seine Sinne auf, um die Luft, den Wind, den aufgehenden Mond zu sehen, zu schmecken und zu berühren. Er schwamm allein am Himmel. Die schwere Erde war verschwunden.
Aber warte, dachte er, warte nur!
Heute nacht – was für eine Nacht ist das?
Die Nacht davor natürlich. Die Nacht vor dem ersten Raumflug zum Mond. Hinter diesem Zimmer auf dem hartgebrannten Wüstenboden hundert Meter weiter wartet das Raumschiff auf mich.
Stimmt das? Ist da wirklich ein Raumschiff?
Halt, dachte er und krümmte sich, drehte sich schwitzend mit festgeschlossenen Augen zur Wand, das grausame Flüstern zwischen den Zähnen. Du mußt ganz sicher sein! Ja, und wer bist du eigentlich?
Ich? dachte er. Mein Name?
Jedediah Prentiss, geboren 1938, Abitur 1959, staatlich geprüfter Raumschiffpilot 1965. Jedediah Prentiss… Jedediah Prentiss…
Der Wind wehte seinen Namen fort. Er wollte ihn packen, er schrie.
Dann beruhigte er sich und wartete, daß der Wind seinen Namen wiederbringen würde. Er wartete geraume Zeit. Stille herrschte, und dann, nach tausend Herzschlägen, spürte er eine Bewegung.
Der Himmel öffnete sich wie eine zarte blaue Blüte. Auf dem Ägäischen Meer regten sich leichte weiße Fächer hinter einer fernen weinfarbenen Brandung.
Im Rauschen der Wellen hörte er seinen Namen.
Ikaros.
Und wieder das leise Flüstern.
Ikaros.
Jemand schüttelte ihn am Arm, sein Vater, der seinen Namen sagte und die Nacht vertrieb. Und er selbst lag klein, halb dem Fenster und halb der Küste da unten und dem tiefen Himmel zugewandt, und spürte, wie der frühe Morgenwind die goldenen, in bernsteinfarbenes Wachs gefügten Federn zerzauste, die neben seinem Bett lagen. Goldene Flügel rührten sich an den Armen seines Vaters, als seien sie lebendig, und
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