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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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sei er in Trauer. Er spürte, daß seine Frau hinter der Tür stand und sein kleines Spiel mit den Augen eines Kritikers beobachtete, der jeden Augenblick auf die Bühne springen und die Vorstellung unterbrechen konnte. Als er an ihr vorbeieilte, murmelte er: »Entschuldige!«
    »Entschuldige!« schrie sie. »Ist das alles, was du mir zu sagen hast? Du schleichst hier herum und planst einen Ausflug!«
    »Ich habe ihn nicht geplant, es ist von selbst so gekommen«, sagte er. »Vor drei Tagen überkam mich dieses Vorgefühl. Ich wußte, daß ich sterben würde.«
    »Hör auf mit dem Gerede«, sagte sie. »Es macht mich nervös.«
    Der Horizont spiegelte sich sanft in seinen Augen. »Ich höre mein Blut ganz langsam rinnen. Wenn ich meinen Knochen lausche, dann ist mir, als stünde ich in einer Dachkammer und hörte, wie die Balken sich verziehen und der Staub niederfällt.«
    »Du bist erst siebenundfünfzig«, antwortete seine Frau. »Du stehst auf deinen eigenen zwei Beinen, du siehst, hörst und schläfst gut, nicht wahr? Wozu also diese Reden?«
    »Es ist die ureigene Stimme des Lebens selbst, die zu mir spricht«, sagte der alte Mann. »Die Zivilisation hat uns allzusehr von unserem natürlichen Ich entfernt. Nimm dagegen die heidnischen Inselbewohner…«
    »Ich denke nicht daran!«
    »Jeder weiß, daß die heidnischen Inselbewohner ein Gespür dafür haben, wann ihre Zeit zu sterben kommt. Sie gehen herum, schütteln ihren Freunden die Hand und geben all ihre irdischen Besitztümer fort…«
    »Und ihre Frauen – haben die nichts zu sagen?«
    »Einen Teil ihrer irdischen Besitztümer geben sie ihren Frauen.«
    »Das will ich hoffen!«
    »Und das übrige ihren Freunden…«
    »Das möchte ich bestreiten!«
    »Und das übrige ihren Freunden. Dann paddeln sie ihre Kanus bei Sonnenuntergang hinaus und kehren nie wieder zurück.«
    Seine Frau blickte zu ihm auf, als sei er schnittreifes Bauholz. »Das ist Fahnenflucht!« sagte sie.
    »Nein, nein, Mildred; ganz einfach der Tod. Zeit zum Aufbruch nennen sie das.«
    »Hat sich irgend jemand mal ein Kanu geliehen und ist hinterhergepaddelt, um zu sehen, was diese Dummköpfe anstellten?«
    »Natürlich nicht«, erwiderte der Alte leicht gereizt. »Das würde ja alles verderben.«
    »Du meinst also, daß sie auf einer anderen Insel andere Frauen und hübsche Freundinnen hatten?«
    »Nein, nein. Ein Mann braucht Einsamkeit und Ruhe, wenn seine Säfte erkalten.«
    »Wenn du beweisen könntest, daß diese Dummköpfe wirklich starben, dann würde ich nichts mehr sagen.« Seine Frau kniff ein Auge zu. »Hat man jemals auf den fernen Inseln ihre Knochen gefunden?«
    »Man weiß nur, daß sie bei Sonnenuntergang hinaussegeln wie Tiere, die spüren, daß die große Zeit nahe ist. Mehr will ich auch gar nicht wissen.«
    »Nun, ich weiß aber mehr«, sagte die alte Frau. »Du hast wieder im National Geographic Artikel über den Elefantenknochenhof gelesen.«
    »Friedhof, nicht Knochenhof!« schrie er.
    »Friedhof oder Knochenhof. Ich dachte, ich hätte die Zeitschriften verbrannt; hast du ein paar davon versteckt?«
    »Sieh, Mildred«, sagte er streng und ergriff wieder seinen Koffer. »Meine Gedanken richten sich nordwärts; und du kannst mich mit allem, was du sagst, nicht nach Süden treiben. Ich bin im Einklang mit den unerschöpflichen Quellen der ursprünglichen Seele.«
    »Du bist im Einklang mit allem, was du zuletzt in der Zeitung eines Scharlatans gelesen hast!« Sie zeigte mit dem Finger auf ihn. »Glaubst du etwa, ich sei so vergeßlich?«
    Er ließ die Schultern sinken. »Bitte, bring das alles nicht schon wieder auf!«
    »Wie war noch die Geschichte mit dem behaarten Mammut?« fragte sie. »Als sie vor dreißig Jahren in der russischen Tundra jenen erfrorenen Elefanten fanden? Du und Sam Hertz, dieser alte Trottel, mit eurer großartigen Idee, nach Sibirien durchzubrennen und den Weltmarkt mit eßbarem, behaartem Mammut zu überschwemmen? Glaubst du etwa, ich hörte nicht mehr, wie du damals sagtest: ›Stell dir die Preise vor, die die Mitglieder der National-Geographic- Gesellschaft zahlen werden, um das zarte Fleisch des seit zehntausend Jahren ausgestorbenen sibirischen Mammuts im Haus zu haben!‹ Glaubst du, diese Wunden wären in mir verheilt?«
    »Ich sehe sie deutlich«, sagte er.
    »Glaubst du, ich hätte jene Zeit vergessen, als du auszogst, um den verlorenen Stamm der Ossoes oder wie immer sie hießen zu suchen, irgendwo in Wisconsin, wo du am Samstagabend

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