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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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in die Stadt traben und dich vollaufen lassen konntest, und wie du dann in die Grube fielst und dein Bein brachst und drei Nächte lang dalagst?«
    »Deine Erinnerung ist wirklich lückenlos«, sagte er.
    »Was soll also das Gerede von heidnischen Eingeborenen und der Zeit zum Aufbruch? Ich kann dir sagen, wie es wirklich steht – es ist Zeit, zu Hause zu bleiben! Es ist die Zeit, da die Früchte dir nicht mehr von den Bäumen zufallen und du sie dir selbst im Laden holen mußt. Und warum holen wir sie uns im Laden? Jemand in diesem Haus – ich will keinen Namen nennen – nahm vor ein paar Jahren das Auto auseinander wie eine Uhr und ließ die Teile im Hof herumliegen. Am kommenden Donnerstag vor zehn Jahren fing ich an, in meinem Garten Autoteile zu suchen. In zehn weiteren Jahren bleibt uns von unserem Wagen nichts als ein kleiner Haufen Rost. Schau aus diesem Fenster! Es ist Zeit, die Blätter zusammenzuharken und zu verbrennen. Es ist Zeit, Bäume zu schlagen und Brennholz zu sägen. Es ist Zeit, die Öfen zu reinigen und Sturmläden vor Türen und Fenster zu hängen. Es ist Zeit, das Dach mit Schindeln zu decken, so ist es, und wenn du denkst, du müßtest dich davor drücken, dann überleg es dir noch einmal.«
    Er legte sich die Hand auf die Brust. »Es schmerzt mich, daß du meiner natürlichen Vorahnung des Todes so wenig vertraust.«
    »Es schmerzt mich, daß die National Geographics verrückten alten Männern in die Hände fallen. Ich sehe, wie du die Seiten liest und dann solchen Träumen verfällst, die ich hinterher wieder zerstreuen muß. Die Verleger dieser Geographic und Popular Mechanics sollten einmal all die halbfertigen Ruderboote, Hubschrauber und einsitzigen Segelflugzeuge mit Fledermausflügeln in unserer Dachkammer, in der Garage und im Keller sehen. Und nicht nur sehen, sondern auch nach Hause karren!«
    »Schwatz nur weiter«, sagte er. »Ich stehe vor dir, ein weißer Stein, der in den Fluten der Vergessenheit versinkt. Um Himmels willen, Frau, kann ich mich nicht fortschleppen, um in Frieden zu sterben?«
    »Es bleibt noch reichlich Zeit für das Vergessen, wenn ich dich eiskalt auf einem Haufen Brennholz finde.«
    »Lieber Gott«, sagte er, »ist die Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit denn nichts als Eitelkeit?«
    »Du kaust an ihr wie an einem Stück Tabak.«
    »Genug!« sagte er. »Meine irdischen Besitztümer sind auf der hinteren Veranda aufgestapelt. Gib sie der Heilsarmee.«
    »Auch die Geographics?«
    »Ja, verdammt noch mal, auch die Geographics! Und jetzt laß mich vorbei!«
    »Wenn du stirbst, brauchst du doch keinen Koffer voll Kleidung«, sagte sie.
    »Laß das, Frau! Vielleicht dauert es ja ein paar Stunden. Soll man mir den letzten Trost der Kreatur rauben! Dies sollte jetzt eine zärtliche Abschiedsszene sein. Statt dessen nichts als bittere Beschuldigungen, Hohn und Zweifel.«
    »Na gut«, sagte sie. »Geh und verbring eine kalte Nacht im Wald.«
    »Es muß nicht unbedingt Wald sein.«
    »Wo kann ein Mann in Illinois wohl sonst sterben?«
    »Nun«, sagte er und schwieg eine Weile. »Es gibt immer noch die offene Landstraße.«
    »Auf der man sich überfahren lassen kann, natürlich, das habe ich ganz vergessen.«
    »Nein, nein!« Er drückte die Augen zu und öffnete sie wieder. »Die leeren Seitenstraßen, die nirgends oder überall hinführen, durch nächtliche Wälder, Wildnisse, an ferne Seen…«
    »Du wirst dir doch wohl kein Kanu leihen und hinauspaddeln? Denk an damals, als dein Boot am Fireman-Pier umkippte und du beinahe ertrunken wärst!«
    »Wer redet denn von Kanus?«
    »Du! Du sprachst von heidnischen Inselbewohnern, die ins große Unbekannte fortpaddelten.«
    »Das ist doch in der Südsee! Hier muß man sich zu Fuß auf den Weg machen, um seine natürliche Quelle wiederzufinden, sein natürliches Ende zu suchen. Vielleicht gehe ich nach Norden ans Ufer des Michigan-Sees mit den Dünen und dem Wind und den großen Brechern.«
    »Willie, Willie«, sagte sie leise und schüttelte den Kopf. »O Willie, was soll ich bloß mit dir machen?«
    Er senkte die Stimme. »Laß mich nur meinen eigenen Kopf durchsetzen!« sagte er.
    »Ja«, antwortete sie ruhig. »Ja.« Tränen kamen ihr in die Augen.
    »Na, na«, sagte er.
    »O Willie…« Sie blickte ihn lange an. »Glaubst du wirklich von ganzem Herzen, daß du nicht weiterleben wirst?«
    Er sah sein Spiegelbild in ihren Augen, klein, aber deutlich, und blickte verlegen zur Seite. »Ich habe die ganze Nacht lang

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