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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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über die Gezeiten des Weltalls nachgedacht, die den Menschen hereinbringen und wieder hinaustragen. Jetzt ist es Morgen; auf Wiedersehen!«
    »Auf Wiedersehen?« Sie sah aus, als hätte sie das Wort noch nie zuvor gehört.
    Seine Stimme wurde unsicher. »Wenn du natürlich unbedingt darauf bestehst, daß ich bleibe, Mildred…«
    »Nein!« Sie faßte sich und putzte sich die Nase. »Wenn du nun einmal so ein Gefühl hast, dann kann ich nichts dagegen machen!«
    »Bist du sicher?« fragte er.
    »Du bist doch derjenige, der sicher ist, Willie«, sagte sie. »Also geh. Nimm deinen warmen Mantel, die Nächte sind kalt.«
    »Aber…«, sagte er.
    Sie lief fort, brachte seinen Mantel, küßte ihn auf die Wange und zog sich rasch zurück, bevor er sie in seine bärenstarken Arme nehmen konnte. Er stand da, seine Gesichtsmuskeln arbeiteten, und er sah nach seinem großen Sessel am Kamin. Sie riß die Eingangstür auf. »Hast du etwas zu essen mit?«
    »Ich brauche wohl nicht…« Er stockte. »Ich habe ein Sandwich mit gekochtem Schinken und Eingemachtes im Koffer. Nur eine Dose. Ich dachte, mehr würde ich wohl…«
    Und schon war er aus der Tür und die Stufen hinunter und auf dem Weg zum Wald. Er drehte sich um und wollte noch etwas sagen, aber dann überlegte er es sich anders, winkte und ging weiter.
    »Will«, rief sie, »übertreibe nicht. Geh in der ersten Stunde nicht zu weit! Wenn du müde wirst, setz dich! Iß, wenn du Hunger hast! Und…«
    Aber hier mußte sie sich unterbrechen; sie wandte sich ab und zog ihr Taschentuch heraus.
    Einen Augenblick später blickte sie auf den Weg, und er sah aus, als sei in den letzten zehntausend Jahren niemand mehr auf ihm gegangen. Er war so leer, daß sie hineingehen und die Tür schließen mußte.
     
     
    Nachts, neun Uhr, halb zehn, die Sterne kamen hervor, der runde Mond, das Licht aus dem Haus erdbeerfarben hinter den Vorhängen, der Schornstein blies lange Kometenschweife eines Feuerwerks hinaus und seufzte. Unter dem Schornstein das Klappern von Töpfen, Pfannen und Bestecken, Feuer im Herd wie eine orangefarbene Katze. Der große eiserne Ofen in der Küche voll aufzuckender Flammen, in denen es kochte, brodelte und briet, Dämpfe und Dünste in der Luft. Von Zeit zu Zeit drehte die alte Frau sich um und horchte mit offenen Augen und offenem Mund auf die Welt draußen hinter dem Haus, hinter dem Feuer und dem Essen.
    Halb zehn – aus der Ferne das Geräusch von Axthieben.
    Die alte Frau richtete sich auf und legte den Löffel hin. Draußen im Mondschein ertönten die dumpfen kräftigen Schläge wieder und wieder. Das Geräusch dauerte drei oder vier Minuten lang an. Währenddessen bewegte sie sich kaum; sie preßte nur bei jedem Schlag den Mund zusammen oder ballte die Fäuste. Als es still wurde, stürzte sie zum Ofen, zum Tisch, rührte um, goß ein, hob auf, trug herum und stellte hin.
    Sie war gerade fertig, als vom Land draußen vor dem Fenster neue Geräusche kamen. Schritte näherten sich langsam auf dem Weg, schwere Schuhe betraten die Veranda.
    Sie ging zur Tür und wartete auf ein Klopfen.
    Aber es geschah nichts.
    Draußen auf der Veranda bewegte sich ein schwerer Gegenstand unruhig hin und her.
    Schließlich seufzte sie auf und rief mit scharfer Stimme durch die Tür: »Will, bist du’s, der da draußen atmet?«
    Keine Antwort. Nur ein verlegenes Schweigen hinter der Tür.
    Sie riß die Tür auf.
    Der Alte stand da mit einem unglaublichen Haufen Klafterholz auf dem Arm. Hinter diesem Haufen ertönte seine Stimme.
    »Ich sah Rauch aus dem Schornstein kommen; da dachte ich, du brauchst vielleicht Holz«, sagte er.
    Sie trat zur Seite. Er kam herein und legte das Holz vorsichtig, ohne sie anzusehen, neben den Herd.
    Sie blickte auf die Veranda hinaus, nahm den Koffer, holte ihn herein und schloß die Tür.
    Sie sah, wie er sich an den Tisch zum Abendessen setzte.
    Sie rührte die Suppe auf dem Herd zu einem großen kochenden Wirbel.
    »Rinderbraten im Ofen?« fragte er ruhig.
    Sie öffnete die Ofentür. Der Dampf quoll in den Raum und hüllte den Alten ein. Er saß da, eingetaucht in den Duft, und schloß die Augen.
    »Und woher kommt der andere Geruch, nach Verbranntem?« fragte er nach einer Weile.
    Sie wartete, den Rücken ihm zugewandt, und sagte schließlich: »Das sind die National Geographics.«
    Er schwieg und nickte langsam.
    Dann stand das Essen auf dem Tisch, heiß und dampfend, und als sie sich gesetzt hatte und ihn ansah, lauschte er einen

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