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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Kanone geschossen, nahm einen Anlauf und sprang nach vorn, kam ins Schleudern und stürzte von Steinschlag gefolgt zwischen aufgerüttelten Büschen und verzerrten Schatten die Straße hinunter. Ich griff hastig nach meinen Knien, da ich bereits viermal mit dem Kopf an die Wagendecke gestoßen war.
    Nick! hätte ich beinahe geschrien. Nick!
    Bilder aus Los Angeles, Mexico-City und Paris zuckten durch mein Hirn. Ich blickte ehrlich erschrocken auf den Kilometerzeiger. Achtzig, neunzig, hundert Kilometer. Hinter uns peitschten wir Kieselstein wogen auf; wir landeten auf der Hauptstraße, kurvten über eine Brücke und sausten die nächtlichen Straßen von Kilcock hinab. Wir hatten kaum mit hundertzehn Kilometern die Stadt verlassen, da fühlte ich, wie alles Gras Irlands sich die Ohren zuhielt, als wir mit lautem Geheul über eine Bodenwelle hüpften.
    Nick! dachte ich und wandte mich zur Seite. Da saß er, und nur eines war an ihm unverändert. Zwischen seinen Lippen hing die brennende Zigarette, und sie ließ zuerst sein eines und dann auch das andere Auge erblinden.
    Aber der übrige Nick hinter der Zigarette war so verändert, als hätte ihn der leibhaftige Widersacher selbst mit dunkler Hand geknetet, geformt und in Feuer gegossen. Da saß er und wirbelte das Steuerrad so und wieder andersherum; bald rasten wir wie wahnsinnig unter Brückenbögen hindurch, aus Tunneln hervor, bald überrannten wir Verkehrsschilder, die wie Wetterhähne im Wirbelsturm davonflogen.
    Nicks Gesicht: Die Weisheit darin war ausgelöscht, die Augen weder freundlich noch philosophisch, der Mund weder tolerant noch friedlich. Es war ein stark gerötetes Gesicht, eine abgebrühte, gepellte Kartoffel, ein Gesicht wie ein blendender Scheinwerfer, der sein stetes, ausdrucksloses Glotzen suchend vorausrichtete, während die raschen Hände das Steuer herumwarfen und immer wieder hineingriffen, um uns in Kurven schief zu legen und von einer dunklen Klippe zur anderen hinabzustürzen.
    Das ist nicht Nick, dachte ich, das ist sein Bruder. Oder etwas Schreckliches ist in sein Leben eingebrochen, irgendein furchtbarer Kummer oder eine Familientragödie oder eine Krankheit, ja, das muß es sein.
    Und dann sprach Nick, und seine Stimme war ebenfalls verwandelt. Fort war das milde, freundliche Moor, der feuchte Rasen, das warme Feuer im kalten Regen, fort das weiche Gras. Jetzt schallte mir diese Stimme entgegen, eine Pauke, eine Trompete, ganz aus Zinn und Eisen.
    »Na, wie gehts inzwischen?« brüllte Nick.
    Dem Wagen wurde Gewalt angetan. Er protestierte dagegen, ja, denn es war ein altes, schwergeprüftes Vehikel, das seine Zeit abgedient hatte und jetzt nur noch zum Meer und zum Himmel trotten wollte wie ein mürrischer Bettler, der seine Knochen und seinen Atem schont. Aber Nick nahm keine Rücksicht darauf und hetzte das Wrack voran, als führe er donnernd zur Hölle, um seine Hände dort an einer besonderen Glut zu wärmen. Nick, ich und der Wagen lehnten uns gleichzeitig zur Seite; dicke fahlblaue Gase schossen funkenstiebend aus dem Auspuff. Nick, ich und der Wagen wurden gemeinsam gemartert und durchgeschüttelt, und unsere Knochen knarrten fürchterlich.
    Mein gesunder Menschenverstand rettete sich durch eine ganz einfache Handlung vor der Gefahr, in Stücke gerissen zu werden. Meine Augen, die nach der Ursache unserer qualvollen Flucht suchten, glitten über den Mann hin, der da glühte wie ein entzündeter Dampfschwaden aus dem Abgrund, und bekamen den Schlüssel zur Antwort zu fassen.
    »Nick«, ächzte ich, »heute ist die erste Fastennacht!«
    »So?« fragte Nick überrascht.
    »Da denke ich an Ihr Versprechen und frage Sie, warum diese Zigarette noch in Ihrem Mund hängt?«
    Nick verstand zuerst nicht, was ich meinte. Dann senkte er den Blick, sah den wogenden Rauch und zuckte die Achseln.
    »Tja«, sagte er, »dafür habe ich das andere aufgegeben.«
    Auf einmal wurde alles klar.
    Während der vergangenen hundertvierzig Nächte hatte mir mein Auftraggeber an der Tür des alten Hauses im Georg-V.-Stil einen feurigen Schluck Scotch oder Bourbon oder irgend etwas »gegen die Kälte« angeboten. Danach war ich, Sommerweizen, Gerste, Hafer, oder was auch immer, aus versengtem, verkohltem Mund atmend, zu meinem Taxi hinausgegangen, in dem ein Mann saß, der während der langen abendlichen Wartezeit, bis ich telefonisch seine Dienste anforderte, in Hebers Kneipe gelebt hatte.
    Dummkopf, dachte ich, wie konntest du das vergessen!
    Und dort,

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