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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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bei Heber Finn, während in sieben Stunden das Gespräch geknüpft wurde – es war, als säten und ernteten geschäftige Männer in einem Garten, jeder tat ein paar Körner oder Blüten dazu, und sie schwangen das Werkzeug, ihre Zungen, und die erhobenen, schaumgefüllten Gläser, und die Hände umschlossen sanft das teure Getränk –, da hatte Nick die Milde in sich aufgenommen.
    Und diese Milde hatte sich als langsamer Regen niedergeschlagen, der seine qualmenden Nerven beruhigte und die wilden Feuer in seinen Gliedern löschte. Die gleichen Schauer wuschen sein Gesicht, bis nur noch die Flutzeichen der Weisheit, die Züge Platons und des Äschylos zurückblieben. Herbstmilde färbte ihm die Wangen, gab seinen Augen sanfte Wärme, senkte seine Stimme zu einem rauhen Nebel, breitete sich in seiner Brust aus und verlangsamte sein Herz zu einem gemächlichen Trab. Sie floß in seine Arme, löste den Griff seiner harten Hände am zitternden Steuerrad und setzte ihn ruhig und entspannt in seinen Sattel aus Pferdehaar, so daß er uns angenehm durch den Nebel fuhr, der uns von Dublin trennte.
    Und mit dem Malz auf meiner eigenen Zunge, der glühende Dämpfe in meine Stirnhöhle schickte, hatte ich an meinem alten Freund hier niemals irgendeinen Alkoholgeruch wahrgenommen. »Ah«, sagte Nick noch einmal. »Tja, das andere habe ich aufgegeben.«
    Das fehlende Stück des Geduldsspiels fiel an den richtigen Platz. Heute war die erste Nacht der Fastenzeit.
    Heute, zum ersten Mal seit all den Nächten, in denen ich mit ihm gefahren war, war Nick nüchtern.
    In all den hundertvierzig Nächten war Nick nicht um meiner Sicherheit willen ruhig und vorsichtig gefahren, sondern wegen des sanften Gewichts der Milde, die sich in ihm bald hierhin, bald dorthin neigte, während wir die scharfen Kurven nahmen.
    Ach, wer kennt wohl die Iren, sage ich, und wer weiß, welche Hälfte von ihnen die richtige ist? Nick? Wer ist Nick? Welcher Nick ist der wirkliche Nick, der, den jeder kennt?
    Ich will nicht weiter darüber nachdenken!
    Für mich gibt es nur einen Nick. Der, den Irland selbst geformt hat mit Wettern und Wassern, Saaten und Ernten, mit Hopfenbrei, Maische und Gebräu, mit allem, was in Flaschen verschlossen und ausgeschenkt wird, mit seinen sommerkornfarbenen Kneipen, in denen es bei Nacht im Wind über Weizen und Gerste rumort – man hört das leise Flüstern weit draußen im Wald und Sumpf, wenn man vorbeirollt. Das ist Nick, wie er leibt und lebt, Nick mit seinen ruhigen Händen. Wenn man mich fragt, was die Iren zu dem macht, was sie sind, dann würde ich die Straße hinunterzeigen und euch sagen, wie man zu Heber Finns Kneipe kommt.
    Die erste Fastennacht, und ehe man bis neun zählen kann, sind wir in Dublin! Ich springe aus dem Wagen, der knatternd an der Kurve hält, und beuge mich hinein, um dem Fahrer das Geld in die Hand zu drücken. Ernst, freundlich, flehend, herzlich, so eindringlich wie möglich blicke ich in das kalte, fremde Gesicht, das wie eine Fackel glüht.
    »Nick«, sagte ich.
    »Sir!« schrie er.
    »Tun Sie mir einen Gefallen«, sagte ich.
    »Was Sie wollen!« brüllte er.
    »Nehmen Sie dieses Extrageld«, sagte ich, »und kaufen Sie die größte Flasche irischen Whisky, die zu finden ist. Und kurz bevor Sie mich morgen nacht abholen, kippen Sie sie runter, Nick, trinken Sie sie aus. Tun Sie das, Nick? Versprechen Sie es mir, Hand aufs Herz.«
    Er überlegte, und schon der Gedanke daran dämpfte die zerstörende Glut in seinem Gesicht.
    »Sie machen’s mir furchtbar schwer«, sagte er.
    Ich öffnete seine Finger und legte ihm das Geld in die Hand. Endlich steckte er es in die Tasche und sah schweigend vor sich hin.
    »Gute Nacht, Nick«, sagte ich. »Bis morgen.«
    »So Gott will«, sagte Nick.
    Und er fuhr davon.

 
Zeit zum Aufbruch
     
     
     
    Der Gedanke wuchs drei Tage und drei Nächte lang in ihm. Tagsüber trug er ihn wie einen reifenden Pfirsich in seinem Kopf herum. Nachts sorgte er dafür, daß er in der stillen Luft gedieh, Fleisch ansetzte und der ländliche Mond und die ländlichen Sterne ihm Farbe verliehen. In der Stille vor der Dämmerung umkreiste er den Gedanken unentwegt. Am vierten Morgen streckte er seine unsichtbare Hand aus, pflückte ihn und verschlang ihn ganz.
    Er stand so schnell er konnte auf, verbrannte alle seine alten Briefe, packte ein paar Sachen in einen winzigen Koffer, zog seinen schwarzen Anzug an und band sich die wie eine Rabenfeder glänzende Krawatte um, als

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